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Splitterherz

Titel: Splitterherz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Fingerrücken zart über meine Lider. Au­genblicklich wurden sie schwer und meine Fragen begannen sich aufzulösen. Schnell, eine noch, sagte ich mir. Nur eine einzige.
    »Und hattest du damals schon ... Was war mit Louis ...? Und die Stute - hast du sie ... verloren?« Ich sprach schleppend.
    »Du musst nach Hause, Elisabeth«, sagte Colin schroff. »Es geht auf Mitternacht zu. Und du bist sehr müde.«
    Der Falter löste sich von Colins Wange und flatterte davon. Ein eisiger Windhauch ließ ihn torkeln und taumeln, bevor er in der Finsternis verschwand. Ich glaubte, Colins Augen aufglühen zu se­hen.
    »Die Nacht ist so schön«, flüsterte ich. Jeder einzelne Herzschlag zog mich weiter abwärts, hin zu dem weichen, duftenden Wald­boden unter meinen Füßen. Ich wollte mich ausstrecken, die Augen schließen und in die Dunkelheit eintauchen, in diesem herrlich ge­borgenen Zustand zwischen Wachen und Schlaf, hier vor Colins Haus. Es konnte kein schöneres Bett geben.
    »Du musst nach Hause«, beharrte er drängend. »Geh.«
    War es das, was ich dachte? Er schmiss mich raus? Es kam mir vor, als dürfte ich keine Sekunde länger in seiner Nähe bleiben. Schon war er aufgestanden und einige Meter von mir weggetreten.
    Hatte ich zu viele Fragen gestellt? Verlegen erhob ich mich. Der Wind wurde stärker und die Tannenspitzen über unseren Köpfen rauschten.
    »Geh vor«, beschwor Colin mich. »Mister X wird dich begleiten. Ich schließe noch das Haus ab, dann lese ich dich mit dem Wagen auf.«
    Tatsächlich sprang Mister X von der Bank, streckte sich und lief leichtfüßig voraus, mitten in den dunklen Wald hinein. Als ich nicht sofort nachkam, setzte er sich auf den mondbeschienenen Pfad und wartete.
    Ich überlegte. Ich war noch nie spätabends alleine im Wald gewe­sen. Schon gar nicht kurz vor Mitternacht. Doch als ich mich zu Colin umdrehte, lag sein Gesicht wieder im Schatten, und da ich mich nicht ein weiteres Mal vertreiben lassen wollte, fügte ich mich seufzend und folgte Mister X, der mich sicher durch die Finsternis führte und regelmäßig Pausen einlegte, um auf mich zu warten. Es blieb mir nichts anderes übrig, als ihm zu vertrauen. Er schnurrte unablässig, was mir ein beruhigendes Gefühl der Zweisamkeit ver­schaffte.
    Plötzlich ließ das gehetzte Trampeln fliehender Hufe den weichen Grund unter mir erbeben. Ich blieb stehen. Mister X drehte sich um, als wolle er mich auffordern weiterzugehen. Der Nachtwind wehte den herben Geruch aufspritzender Erde durch das flüsternde Dickicht. Dann kam der Himmel über uns jäh zur Ruhe. Totenstille senkte sich über den Wald. Kein Lufthauch regte sich mehr. Mister X schaute mich unverwandt an und ich erwiderte seinen Blick, kon­zentrierte mich nur auf seine gelb schimmernden Augen, bis nach schier endlos dahinkriechenden Minuten der surrende Motor des Geländewagens das Schweigen der Nacht durchbrach. Grelle Schein­werferkegel leuchteten mich von hinten an und verzerrten meinen Schatten zu einer langen, zittrigen Silhouette.
    Wieder öffnete Colin von innen die Tür und ich schob mich in den Wagen, während der schwarze Kater munter zum Haus zurück­tollte.
    »Und? War es so schlimm?«, fragte Colin mit einem spöttischen Lächeln in seinen Mundwinkeln. Er sah frappierend gesund und munter aus. Brauchte man tatsächlich so lange, um eine Haustür abzuschließen und einen Wagen zu starten? Doch es war mir nicht möglich, diese Frage zu formulieren. Eine fremde Macht, die ich weder begreifen noch benennen konnte, hielt mich davon ab.
    »Nein«, gab ich widerwillig zu. »War das eine Mutprobe, oder was?«
    Er antwortete nicht, sondern fuhr bis zum oberen Dorfrand von Kaulenfeld, lud mein Fahrrad aus und öffnete mir die Tür. Ganz die alte Kavaliersschule - und ein nicht gerade dezenter Hinweis, dass ich endlich verschwinden sollte.
    »Raus mit dir.« Ich rutschte vom Sitz und merkte, dass meine Knochen und Gelenke sich dumpf schmerzend widersetzten. Wann würde dieser elende Muskelkater endlich verschwinden?
    »Colin?« Ich versuchte, meine Stimme selbstsicher klingen zu las­sen. »Ich möchte Louis kennenlernen.« Ich möchte dich kennen­lernen. Nicht Louis. Ich fürchte mich vor Louis. Himmel, was sagte ich da nur?
    »Oje«, lachte er. Machte er sich wieder über mich lustig?
    »Bitte«, setzte ich nach.
    »Und ich möchte, dass du jetzt schläfst.« Es klang freundlicher als alles andere, was er bisher zu mir gesagt hatte, aber immer noch sehr bestimmt.

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