Splitterherz
dunklen Salzwasserstraßen an meinem Körper hinunter, wanderten durch den Sand, fanden sich zu Strudeln zusammen und bildeten schließlich einen dunkelblauen, endlos tiefen, salzigen See. Ich ertrinke. Colin, ich ertrinke, versuchte ich zu rufen. Louis wieherte schrill. Doch Colin tat nichts. Er hörte mich nicht. Er schaute mich nicht an. Stumm schwebte er über dem Salzsee, der alles zu verschlingen drohte. Auch mich.
Ich war so traurig.
Der Vogel am Waldrand zog mich mit einem durchdringenden, aber fast zärtlichen Ruf schnell und sicher aus meinen Träumen. Und tiefer Schlaf entführte mich mit sanfter Gewalt in eine ferne, tröstende Welt.
Nachtschattentanz
Verwirrt schaute ich in den Spiegel. Dann auf meine Handflächen, von denen sich deutlich zwei kleine, runde Kontaktlinsen abhoben, und wieder nach draußen. Ich konnte sehen. Ganz ohne Hilfe. Scharf hob sich das Spitzdach der Garage gegen den azurblauen Sommerhimmel ab. Ich konnte sogar das Moos auf den Schindeln erkennen, die dunklen Sprenkel auf dem Verputz.
Zum ersten Mal seit Tagen wanderten meine Mundwinkel von alleine nach oben und nicht, weil ich sie dazu zwang. Ich grinste mich an, dieses nicht mehr ganz so blasse, aber ungeschminkte und unfrisierte Wesen in meinem Spiegel. Vergnügt bugsierte ich die Kontaktlinsen in ihre Behälter zurück. Ich brauchte sie nicht mehr. Zumindest heute nicht.
Was immer da auch mit meinen Augen geschehen war - es gefiel mir. Gut, die Baumspitzen am Horizont verschwammen immer noch. Und die Kühe ganz hinten auf der Weide am Dorfrand konnte ich nur erahnen. Aber verglichen mit all den Jahren zuvor war meine Sehleistung sensationell. Sie war im wahrsten Sinne des Wortes ein Lichtblick nach dieser ereignislosen, stumpfsinnigen Schulwoche.
Ja, es war schon wieder Samstag. Vor mir lagen zwei Tage, von denen ich nicht wusste, wie ich sie füllen sollte. Das Morgenkonzert der Vögel hatte mich viel zu früh geweckt und ich verbrachte die Dämmerung damit, in meinem Kopf Argumente hin und her zu wälzen, die für oder gegen die 80er-Jahre-Disco heute Abend sprachen. Ich gab mir Mühe, möglichst viele dagegen zu finden, hegte aber den Verdacht, dass ich trotzdem hingehen würde. Es gab sonst einfach nichts zu tun.
Colin hatte mich weggeschickt. Noch einmal wollte ich mir das nicht gefallen lassen, an diesem Beschluss gab es nichts zu rütteln. Er sollte andere Mädchen einladen und dann wieder wegschicken. Ich war das Insektendasein leid.
Trotz meiner Enttäuschung hüpfte ich weitaus lebendiger als die vergangenen Tage die Treppe hinunter. Mama und Papa frühstückten ausnahmsweise gemeinsam - Papa wach und ausgeruht, Mama mehr tot als lebendig.
»Ich brauche meine Linsen nicht mehr«, verkündete ich euphorisch.
Papa betrachtete mich zweifelnd über den Rand seiner Zeitung - etwas zu lange und ausführlich. Was passte ihm denn nicht?
»Ehrlich, ich kann wieder viel besser sehen. Ich glaube sogar, ich konnte mein ganzes Leben lang noch nicht so gut sehen.« Meine Kurzsichtigkeit war ein Drama gewesen. Erst in der Grundschule hatte man sie entdeckt. Monatelang kapierte niemand, dass ich schlecht sah, bis die Schulärztin mich schnappte und mehrere Tests mit mir machte. Den Hörtest bestand ich mit Bravour. Ich hörte sogar Sachen, die ich gar nicht hören sollte. Beim Sehtest hingegen schnitt ich katastrophal ab. Ich war nicht nur kurzsichtig, sondern litt auch an einer ausgewachsenen Achsenkrümmung in beiden Augen. Das erklärte, warum ich beim Völkerball nie den Ball erwischte und bei Schulausflügen öfter mal gegen Straßenlaternen und Fensterläden lief. Ich bekam also eine hässliche Brille und mit vierzehn endlich die ersehnten Kontaktlinsen. Ein kostspieliges Vergnügen, da ich sie gerne in den unmöglichsten Situationen verlor.
Papa brauchte gar nicht so kritisch zu gucken. Mutter Natur hatte ihn mit Adleraugen gesegnet. Er ging auf die fünfzig zu und war nicht einmal auf eine Lesebrille angewiesen. Ich fand, dass er sich ruhig ein wenig mit mir freuen konnte.
»Wer hat dich denn da letzten Freitag schon zum zweiten Mal nach Hause gebracht, Elisa?«, fragte Papa unvermittelt und betont beiläufig. Ich warf Mama einen strengen Blick zu, doch sie tat so, als habe sie es nicht bemerkt. Papa war beide Male nicht zu Hause gewesen, als Colin mich heimgefahren hatte, also hatte sie seinen Wagen gesehen und es natürlich sofort brühwarm Papa erzählt. Und allein die Tatsache,
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