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Splitterndes Glas - Kriminalroman

Splitterndes Glas - Kriminalroman

Titel: Splitterndes Glas - Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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zurückgenommen wurde und der Solist anhob, souverän und doch ein ganz klein wenig schwerfällig: Mozarts Fagottkonzert B-Dur KV 191.
    Mit sechzehn, als Stephen in der zehnten Klasse war, hatte er sich plötzlich mit einem Jungen aus der Oberstufe angefreundet. Er war ein Jahr älter. Stephen war in ihn verliebt gewesen, wie Lesley später klar wurde. Und dieser Junge hatte im Schulorchester gespielt, bei den Holzbläsern, Fagott. Aber nicht nur dort, auch im Orchester der Grafschaft. Hatte er nicht auch beim National Youth Orchestra vorgespielt? Sie konnte sich nicht erinnern. Aber sie wusste noch genau, dass sie zusammen mit Stephen in einer Kirche in Leicester gewesen war, wo dieser Junge das Fagottkonzert gespielt hatte. Sie erinnerte sich an die Konzentration auf Stephens Gesicht, an die Art, wie er mit den Händen seine Knie umklammert hatte. Sie erinnerte sich an sein Atmen; sie konnte es in diesem Augenblick – als das Allegro zum Ende kam – im Hintergrund hören, wie sie es damals gehört hatte.
    Sie sprang auf und schaltete schnell das Radio aus.
    Sie schwitzte schon wieder, aber jetzt war es anders. Ihr Hals war trocken und ihre Haut prickelte. Sie konnte diese Musik wieder und wieder hören, eine CD kaufen und sie endlos spielen lassen, genau wie es Stephen getan hatte, als der Junge zum Studieren nach Manchester gegangen war |327| und Stephen nichts mehr von ihm gehört und ihn auch nicht wiedergesehen hatte.
    Aber außerhalb ihrer Fantasie würde sie Stephen nie wieder atmen hören. Stephen war tot, und sie wusste noch immer nicht, warum er gestorben war. Auch die Polizei wusste es nicht, obwohl Helen Walker versprochen hatte, sie würde ihre Kollegen informieren und sich nach Kräften darum kümmern.
    Draußen wurde der Himmel langsam in das erste Licht getaucht.
     
    Je weiter sie an diesem Nachmittag in die Fens vordrang, desto größer schien die Entfernung zwischen ihr und dem Horizont zu werden, als würde sich die Erde ihrem Zugriff entziehen und sich wegdrehen. Zuweilen brach die Sonne durch das ansonsten allgegenwärtige Grau und verwandelte die Felder in Silber.
    Dass sie schon einmal hier gewesen war, hinderte sie nicht daran, sich zu verfahren; zweimal hielt sie am Straßenrand an und versuchte, ihre Karte mit der endlosen Weite, die sie umgab, zu vergleichen, mit einer Landschaft, die kaum von Häusern oder Bäumen unterbrochen wurde.
    Zu ihrer Überraschung näherte sie sich ihrem Ziel von der entgegengesetzten Seite, und wieder hielt sie an, um sich zu orientieren. Vor ihr, auf dem schmalen Streifen der Straße pickte eine Krähe auf etwas herum und riss mit dem Schnabel daran. Erst als sie nur noch eine Wagenlänge entfernt war, erhob sich das Tier mit einem schroffen Kreischen und leichtem Flügelschlag in die Luft.
    Lesley parkte auf dem unebenen Dreieck aus Gras vor dem Tor, und nach nur einem Moment des Zögerns betätigte sie den Mechanismus, der sie einlassen würde. Eine winzige Kamera, die sie bei ihrem ersten Besuch übersehen |328| hatte, war ein Stück weiter weg auf einem Zaunpfosten befestigt.
    Dieses Mal stand nur der Jaguar im Hof, auf Hochglanz poliert. Keine anderen Fahrzeuge, kein Fahrrad, das an der Wand lehnte. Außer ein paar Geschirrhandtüchern auf einer Wäscheleine gab es keinerlei Anzeichen von Leben.
    Sie klopfte an dieselbe Tür wie beim ersten Mal und wartete: Nichts geschah. Einen Moment lang sah sie nach oben in die Linse der Kamera, die auf sie zeigte. Sie klopfte noch einmal und legte das Ohr an die Holztür. Nichts rührte sich.
    Als sie rief, schallte ihre Stimme seltsam flach zu ihr zurück. Alles um sie herum war still, ausgenommen das ferne Geschnatter der Vögel. Durch das Küchenfenster konnte sie Tassen und Teller sehen, die neben der Spüle zum Trocknen aufgestellt waren. Obst in einer Schale. Das gleiche Spülmittel, das sie auch benutzte.
    Sie trat zurück und sah zu den Fenstern im oberen Stockwerk hinauf, aber dieses Mal war niemand da, kein Gesicht spähte nach unten. Durch die Latten der ersten Scheune konnte sie Werkzeuge und Kisten erkennen, Holzscheite waren an einer Wand gestapelt; in der zweiten, größeren Scheune stand ein kleines, teilweise von einer Plane bedecktes Boot auf einem Anhänger. Auf der Rückseite des Hauses gab es weitere Stapel mit Feuerholz, auf dem Boden lagen Holzspäne.
    Zwischen Apfelbäumen, die noch nicht blühten, lief sie durch den Obstgarten. Zwei größere Birnbäume standen bei der Hecke, die den

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