Splitterndes Glas - Kriminalroman
Garten von dem angrenzenden Feld abtrennte. Wie lange konnte man laufen, überlegte Lesley, ohne dass man auf ein anderes Haus, einen anderen Menschen traf?
Und dann fiel ihr Blick auf sie. Eine Gestalt, kaum auszumachen. |329| Sie hockte in einiger Entfernung am Rand des Feldes. Lesley rief einen Gruß, und für einen Moment wandte die Gestalt ihr das Gesicht zu, sah aber sofort wieder weg. Es konnte irgendjemand sein, dachte Lesley, eine Autofahrerin vielleicht, eine Wanderin, die sich ausruhte.
Sie quetschte sich durch die Hecke und lief auf dem Gras am Rand des Feldes entlang. Es war rutschig, und der Boden war feucht unter ihren Füßen.
Als sie bis auf knapp zwanzig Meter herangekommen war, wandte ihr die Frau langsam den Kopf zu, und Lesley erkannte das Gesicht, das sie am Fenster gesehen hatte: dasselbe strähnige dunkle Haar, dieselben schmalen blassen Züge.
Lesley hob eine Hand zur Begrüßung, und die Frau wandte sich ab.
In der Ferne hörte sie jetzt das Knattern eines Traktors, und als ihr Blick dem Geräusch folgte, sah sie ihn weiter westlich über ein Feld fahren.
Die Frau saß in der Hocke, ihr Kleid hing auf den Boden und war überall mit Schlamm beschmiert. Es war einmal dunkelgrün gewesen und hier und dort mit Spitze besetzt. Unter den Flügelärmeln waren ihre Arme nackt, die Haut war schlaff, und abgesehen von einem Kranz aus mattbraunen Flecken noch fahler als im Gesicht. Die Frau trug viel zu große, nicht zugeschnürte Männerschuhe an den Füßen. Ihr Haar war ungekämmt und verfilzt, wie Lesley jetzt sehen konnte.
Lesley beugte sich zu ihr hinunter. »Hallo«, sagte sie. »Ich bin Lesley.«
Eine leichte Bewegung des Kopfes, sonst nichts.
»Sie müssen Lily sein. Stimmt das?«
Lily begann zu weinen.
»Alles in Ordnung«, sagte Lesley. »Ich tue Ihnen nichts. |330| Ich habe Sie nur hier sitzen sehen, vom Garten aus. Ich dachte, Sie hätten vielleicht gern Gesellschaft.«
Lily hob einen kleinen grauen Stein vom Erdboden auf, musterte ihn in ihrer Handfläche und ließ ihn dann fallen. »Sind Sie die Krankenschwester?«, fragte sie. »Die neue Krankenschwester?«
»Nein.« Lesley ging vorsichtig in die Hocke und setzte sich neben sie, wobei ihre Arme sich ganz leicht berührten.
»Die letzte hat mich nämlich beklaut«, sagte Lily. »Hat das ganze Geld aus meinem Portemonnaie genommen. Ich hatte es nämlich gespart.« Sie warf einen schnellen Blick über die Schulter, an Lesley vorbei zum Haus. »Das Geld für meine Fahrkarte. Alles, was ich hatte. Ich hab’s ihnen gesagt, und deshalb haben sie sie vor die Tür gesetzt. Diese Mrs Dingsbums.« Ein belustigtes Glitzern spielte in Lilys Augen. »Haben ihren Arsch vor die Tür gesetzt, das haben sie gemacht. Ihren knochigen kleinen Arsch.«
»Mrs Dingsbums«, sagte Lesley, »ist das die Haushälterin?«
Lily sah sie an. »Das ist die Hexe.«
»Sie mögen sie nicht.«
»Ach …« Den Kopf auf die Seite gelegt, schwenkte Lily die Hand durch die Luft. »Sie ist nicht so schlimm wie gewisse andere. Sie tut mir nicht weh. Die anderen haben mich nämlich geschlagen. Haben mir Haare ausgerissen.«
»Das kann doch nicht sein.«
»Doch. Aber das war woanders, nicht hier. Howard hat sie nicht gelassen. Er hat mich da weggeholt. Ich habe ihm erzählt, was sie machen, und er hat mich weggeholt. Hat mich nach Hause gebracht, hierher.« Kurz legte sie ihre Hand auf Lesleys Arm. »Er liebt mich nämlich. Sorgt für mich.«
|331| Sie nahm die Hand weg und lehnte sich etwas zurück, öffnete den Mund ein wenig und sah in den Himmel.
»Möchten Sie ins Haus zurückgehen?«, fragte Lesley. »Ich bringe Sie hin, wenn Sie mögen.«
»Ich hab Sie schon mal gesehen«, sagte Lily. »Sie waren irgendwann hier.«
»Das stimmt. Ich wollte Sie besuchen.«
»Nein.« Lily schüttelte den Kopf. »Niemand kommt mich besuchen. Howard sagt, es ist nicht gut für mich. Und die Hexe schickt alle weg.«
»Es ist möglich«, sagte Lesley, »dass mein Bruder Stephen hier war, um Sie zu besuchen. Vor einer Weile. Er wollte mit Ihnen sprechen.«
»Howard sagt …«
»Er hat ein Buch geschrieben und wollte Ihnen ein paar Fragen stellen.«
»Ein Buch?«
»Ja. Über Stella.«
»Über meine Mutter?«
»Nein, Ihre Tante. Stella ist Ihre Tante.«
»Ach ja, natürlich. Ich weiß. Irene, das ist meine Mutter. Ich müsste ja eigentlich meine eigene Mutter kennen.« Lily streckte den Arm aus und tätschelte Lesleys Hand. »Sie müssen mich entschuldigen,
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