Splitterndes Glas - Kriminalroman
nicht sagen. Aber jetzt hat er Angst, glaube ich, dass es wieder passiert. Das würde erklären, warum er irgendwie paranoid ist. Und dann ist da natürlich Lily.« Sie zündete sich noch eine Zigarette an. »Meine Mutter. Man könnte sie labil nennen. Ich weiß nicht. Depressiv? Eine bipolare Störung? In viktorianischen Zeiten hätte man sie wahrscheinlich auf dem Dachboden eingesperrt.«
Als sie Lesleys Gesichtsausdruck sah, schüttelte Natalie den Kopf. »Tut mir leid. Das hätte ich nicht sagen sollen. Nicht über meine eigene Mutter. Das kommt von zu viel ›Jane Eyre‹ in einem Alter, in dem man leicht zu beeinflussen ist. Aber mein Dad hat recht, wenn er vorsichtig ist. Ist nicht schwer, sie aus der Bahn zu werfen.«
»Ist sie in der Klinik?«
»Im Augenblick nicht. Aber sie war immer mal wieder dort, praktisch, seit ich sie kenne. Seit ich verstehen kann, was da los ist.«
»Das tut mir leid.«
|124| »Na ja. So ist das Leben. Aber es erklärt natürlich, warum mein Dad nichts von Publicity hält.«
Lesley lächelte. »Also liebt er Sie.«
»Er verabscheut das ganze Getue und den Rummel, ist ja klar. Aber was kann er machen? Und ich glaube, tief im Inneren ist er vielleicht stolz. Nicht auf den ganzen Schwachsinn, aber auf ein paar Sachen, die ich gemacht habe. Auf meine Arbeit, verstehen Sie? Wenigstens möchte ich das gern glauben. Und solange nichts über meine Familie gedruckt wird, ist alles in Ordnung. Solange sie außen vor bleiben.«
»Das kann aber nicht einfach sein«, sagte Lesley, »so wie die Medien nun einmal sind.«
»Lauter Gesocks wie Sie, meinen Sie?«
»Genau.«
Natalie trank noch etwas Lager. »Aber man muss sich nicht nur vor Reportern in Acht nehmen, das kann ich Ihnen sagen.«
»Was soll das heißen?«
Natalie beugte sich näher. »Vor einem knappen Jahr setzt sich so ein Typ mit mir in Verbindung. Damals hat Scott sich noch nicht um meine PR gekümmert, und deshalb kommt er direkt zu mir. Hat meine Agentin, die blöde Kuh, überredet, ihm meine Nummer zu geben. Sagt, er schreibt ein Buch über Stella. Unglaublich, was? Er meint, es sei wieder ein großes Interesse vorhanden und ob er wohl mal mit mir sprechen könnte? Also erzähle ich ihm mehr oder weniger, was ich Ihnen auch gesagt habe, dass ich nämlich so gut wie nichts über sie weiß, aber er ist hartnäckig und schließlich willige ich ein. Weiß der Scheiß, warum.«
Sie machte eine Pause, um einen Schluck zu trinken.
»Er kommt nach London, wo ich lebe. Primrose Hill. Er ist ’n bisschen freakig, aber es gibt Schlimmeres. Dann stellt |125| sich raus, was er in Wirklichkeit will, und das ist Kontakt zu meiner Mum und meinem Dad. Besonders zu meinem Dad. Scheinbar hat er ihm ein Dutzend Mal geschrieben und nie ’ne Antwort gekriegt. Teilweise, weil ich ihn jetzt kenne und er irgendwie nett ist – ich meine, ich fahre nicht auf ihn ab, was gut ist, weil er erzschwul ist –, und teilweise, damit ich ihn vom Hals habe, um bei der Wahrheit zu bleiben, sage ich, ja, klar, ich tu, was ich kann. Und als ich ihn das nächste Mal sehe, meinen Dad, erwähne ich die Sache und er flippt regelrecht aus. Diese verdammte Schwuchtel steckt ihre Nase in Sachen, die sie nichts angehen. Beruhige dich, sage ich zu ihm. Reg dich ab. Der arme Kerl macht nur seinen Job. Halt dich von ihm fern, sagt mein Dad, erzähl ihm überhaupt nichts.«
Natalie machte eine Pause, um schnell einen Schluck Bier zu trinken.
»Dieser freakige Typ«, sagte Lesley. »Ich kenne ihn. Er ist mein Bruder.«
»Ihr Bruder?« Natalie starrte sie entgeistert an. »Sie machen Witze.«
»Richtigstellung«, sagte Lesley. »Er war mein Bruder.«
»Was? Was soll das heißen? Er war? Meinen Sie …?«
»Er wurde ermordet. Stephen wurde ermordet. Vor einer Woche.«
»Ermordet? Wie? Ich meine, Lesley … mein Gott!«
»Und?« Scarman war plötzlich bei ihnen und klatschte in die Hände. »Haben wir die Sache hier erledigt?«
»Verpiss dich, Scott«, sagte Natalie und würdigte ihn keines Blickes.
»Lesley, du musst doch inzwischen genug Material haben?«
»Ich sagte, verpiss dich«, wiederholte Natalie laut genug, um Aufmerksamkeit zu erregen. »Oder besorge mir |126| wenigstens was zu trinken. Besorg uns beiden was zu trinken.«
»Ich würde sagen, du hast wirklich genug gehabt, findest du nicht?« Scarman streckte besitzergreifend die Hand nach ihr aus und sie schlug sie weg.
»Wer, glaubst du, bist du? Mein Scheißvater?«
»Natalie
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