Splitterndes Glas - Kriminalroman
Sessel. Ihre Hand war bandagiert, in ihrem Schoß hatte sie mehrere Teile aus der Minibar. Sie ist schön, dachte Lesley, auch ohne jede Spur von Make-up, die Lippe vorgeschoben wie ein schmollendes Kind, müde und reizbar. Die Schönheit war durch den Mangel an Künstlichkeit vielleicht umso auffälliger.
Jetzt eine Kamera und das Bild dieses Gesichts würde den Weg in die meisten Zeitungen des Landes finden. Auch ins Ausland.
Für Lesley war es allerdings das falsche Medium. Sie nahm ihr Tonbandgerät heraus und zog einen der Stühle näher zu Natalie heran, die in diesem Augenblick den Verschluss einer Miniaturflasche Wodka aufschraubte.
»Das ist großartig«, sagte Scarman. »Richtig schlau. Genau, was wir brauchen. Du halb betrunken, und das am Morgen.«
»Scott, um Gottes willen. Wer soll das schon mitkriegen?«
»Wer? Das ist eine Reporterin, die da vor dir sitzt, falls du es vergessen haben solltest.«
»Das ist meine Freundin«, sagte Natalie, streckte den Arm aus und drückte Lesleys Hand.
Scarman murmelte etwas Unanständiges und schüttelte ungläubig den Kopf.
Lesley konnte nicht anders, sie war merkwürdig gerührt. »Warum erzählst du mir nicht, was gestern Abend passiert ist?«, sagte sie. »In deinen eigenen Worten.«
Eine halbe Stunde später war es geschafft. Während des |130| gesamten Gesprächs hörte Lesley, wie Scarman im Nebenzimmer mit dem Handy telefonierte. Sie verstand nicht, was er sagte, aber den Ton: Scarman polierte raue Kanten, glättete Wogen, machte Versprechungen, die er keineswegs zu halten beabsichtigte.
»Was wirst du jetzt tun?«, fragte Lesley.
»Nach London zurückgehen, denke ich«, sagte Natalie. Sie schenkte Lesley ein mattes Lächeln. »Irgendwie ist es dort einfacher. Hier ist es wie im Goldfischglas. Ein Furz am falschen Ort, und man landet in der Klatschspalte der ›Post‹.«
»Wenn du dich vielleicht etwas zurückhalten würdest …«
»Keine Pillen einschmeißen und nicht saufen, das meinst du doch.«
Lesley lachte. »Das würde vielleicht auch helfen.«
Natalie ging mit ihr zur Tür. »Dein Bruder«, sagte sie.
»Stephen.«
»Gestern. Ich hätte nie gesagt, was ich gesagt habe …«
»Schon gut.«
»Nein, ich wusste ja nicht …«
»Pass auf.« Lesley legte die Hand auf Natalies Schulter. »Ich glaube nicht, dass es ihm viel ausgemacht hätte, freakig genannt zu werden. Immer noch besser als Sonderling.«
»Und wie steht es mit erzschwul?«
Lesley grinste. »Voll ins Schwarze getroffen.«
»Wann hast du …?«, platzte Natalie mit einer Frage heraus und brach dann ab.
»Nur weiter. Wann habe ich was?«
»Nein, es ist nicht wichtig.«
»Wann ich gemerkt habe, dass Stephen schwul ist?«
»Ja.«
Lesley stieß einen kleinen Seufzer aus. »Es ist wirklich merkwürdig. Stephen war älter als ich, nicht viel, aber als |131| ich noch im Kindergarten war, war er schon in der Schule, und als ich dann in der Mittelstufe war, kam er bald in die Oberstufe, und deshalb habe ich nie in Frage stellt, was er tat, glaube ich. Er war einfach mein großer Bruder. Und er war nett zu mir. Er hat mit mir gespielt, jedenfalls manchmal. Ich hatte einen Bauernhof mit Kühen und Schafen und so, weißt du, und – ach Gott! – wir haben uns verkleidet.« Lesley lachte. »Da hätte der Groschen eigentlich fallen müssen. Und er las mir immer vor, als ich noch ganz klein war. Die Geschichten von ›Mademoiselle Eichkatz, Meister Lampe und Graupfötchen‹, an die erinnere ich mich noch.« Lesley lächelte, aber dabei rannen ihr Tränen übers Gesicht. »›Meister Lampe in der Bürgerwehr‹, das hatten wir am liebsten. Wie der Hase alles falsch versteht und der Armee von Wieseln seine Schinken- und Eibrote entgegenschleudert, weil er nicht weiß, was ein Hinterhalt ist.«
Jetzt weinte sie laut und atmete stoßweise.
Scarman steckte den Kopf durch die Tür des Nebenzimmers und verschwand schnell wieder.
Natalie legte einen Arm um sie und führte sie zum Bett. »Komm, setz dich.«
»Tut mir leid, ich …«
»Sei nicht albern, alles in Ordnung.«
»Ich habe einfach nicht …«
»Ist alles gut.«
»Ich habe nicht …«
»Ach, du Scheiße, sei einfach still und weine.«
Lesley lachte und weinte und weinte weiter, bis alle Tränen vergossen waren.
Sie hatte sich an Natalie gelehnt, und Natalies Ärmel war völlig durchnässt. Lesleys Make-up hatte sich über ihr ganzes Gesicht verteilt.
»Mein Gott, wie ich aussehen muss!«
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