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Splitternest

Titel: Splitternest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markolf Hoffmann
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Niemand lebte dort, seit über hundert Jahren nicht mehr, außer Schnecken und Kröten, Ratten und Mückenschwärmen. Die Anwohner mieden die Gegend. Alle Pläne der Bürgerschaft, das Sterbende Vara trocken zu legen, waren gescheitert, da selbst die Ärmsten der Stadt sich nicht für diese Arbeit verpflichten lassen wollten.
    »Der Mond scheint«, wisperte einer der Flammenhüter, ein magerer Mann mit schreckhaften Augen. »Dann kommen sie. Sie hassen das Licht, aber suchen den Mond. Er schneidet ihre Körper aus der Finsternis.«
    Der Anführer der Ritterschaft warf ihm warnende Blicke zu. »Schwing keine Reden. Es weiß doch eh niemand, woher die Scharten kommen, wer sie geschickt hat …«
    »Oh, ich weiß es. Sie kommen aus dem Verlies, um uns zu holen.« Die Stimme des Flammenhüters zitterte. »Seit Wochen geht es so … stets in der Nacht, stets bei Mondlicht. Sie kommen aus dem Dunkeln, werfen sich auf dich, rauben dir den Verstand, bis du dir die Augen mit den eigenen Fingernägeln aus dem Kopf kratzt. Ich habe die Leichen gesehen, habe sie selbst zum Totengräber geschleift. In ihren Gesichtern zwei ausgefranste, blutende Höhlen – was sagst du dazu, Klippenritter?« Er drängte sich näher an den Anführer. »Wir sollten nicht hier sein; nicht in der Nacht, nicht in der Nähe des Sterbenden Vara. Denn von dort kommen sie. Dort herrscht immer Dunkelheit.«
    »Ja, und hier ist es hell«, spottete der Ritter. »Deshalb haben wir dich und deine Männer ja herbeigerufen. Ihr sorgt dafür, dass das Feuer der Körbe nicht erlischt, und wir, dass kein Schatten euch holt.« Er wies auf das Schwert an seiner Seite.
    »Damit könnt ihr nichts gegen sie ausrichten. Ich sah einen von ihnen aus der Nähe, als er über meinen Gefährten herfiel. Ein Schatten! Ein Geist ohne Körper … ihr könnt sie nicht töten.«
    »Das ist auch nicht unsere Aufgabe. Fürst Binhipar will nur, dass sie keinen Ärger machen und nicht in der Stadt umherschleichen.« Der Klippenritter wandte den Kopf. Hinter den Feuerkörben führte eine Gasse vom Platz ab. Sie war abschüssig und machte nach zwanzig Schritt eine Krümmung. Die Häuser wirkten armselig, die Türen standen offen oder hingen schräg in den Angeln. Die Bewohner mussten Hals über Kopf geflohen sein.
    »Ihr könnt diese Stadt nicht retten«, sagte der Flammenhüter. »Vara ist längst ein Gefängnis. Niemand kann hinaus und niemand hinein, seit sich die Mauern verwandelt haben. Bist du in den letzten Tagen am Stadtrand gewesen? Hast du die Wände aus Glas gesehen? Wir sind eingeschlossen, abgeschnitten von der Außenwelt, gefangen in einem gläsernen Käfig, der sich verändert, der wächst und wuchert. Varas Grenzen verschieben sich. In meinem Viertel gibt es Straßen, die ich nie zuvor gesehen habe, die vor wenigen Tagen nicht dort waren, wo sie jetzt sind. Tagsüber scheinen sie leer. Aber in der Nacht, da kriechen die wahren Bewohner hervor, und ihre Augen glänzen wie Gold …«
    »Schluss jetzt!« Der Ritter stieß den Mann beiseite. »Denkst du, wir sind blind? Jeder kann die Türme sehen, jeder sieht sie wachsen und sieht neue hinzukommen. Aber das wird ein Ende haben. Fürst Binhipar hat es versprochen.«
    »Ach, hat er das?« Die Stimme des Flammenhüters klang schrill, als ein anderer Ritter ihn fortzerrte. »Will euer Fürst die Türme mit den Fäusten einschlagen? Wach auf! Wir sind Gefangene. Dies ist das Ende. Die Fürsten haben uns belogen und im Stich gelassen, auch der Kaiser, selbst Nhordukael …«
    Er hielt inne. Aus der Gasse drangen scharrende Geräusche. Zugleich änderte sich das Licht.
    Der Mondschein schwand, als hätte ein dunkles Tuch ihn von den Mauern gewischt. Die Klippenritter zogen ihre Schwerter. Der Anführer erteilte leise Befehle, die Flammenhüter füllten neues Öl in die Feuerkörbe. Hell loderte das Feuer auf. Aber die Dunkelheit in der Gasse wollte nicht weichen. Dennoch waren Schemen zu erkennen … sie wankten dem Feuer entgegen, ihre Schritte langsam, unsicher.
    Ein Klippenritter zückte seinen Bogen, legte einen Pfeil an die Sehne.
    »Nicht schießen!« Der Anführer kniff die Augen zusammen. »Warte noch!«
    Es waren tatsächlich Menschen, Frauen, Männer, selbst ein Kind war darunter. Sie trugen Winterkleidung, dicke Pelze und Mützen. Ihre Schuhe und Hosen waren schlammverklebt, als ob sie durch tiefen Morast gewatet wären. Und die Gesichter … sie waren bleich wie Wachs. Ihre Augen glänzten golden. In ihnen tanzte der

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