Splitternest
fürchtest … warum nur, Rumos?« Schwer atmend sank der Zauberer auf den Sand.
Laghanos’ Maske bewegte sich. Langsam glitten die verschmolzenen Sporne auseinander, richteten sich auf wie zitternde Fühler und tasteten in der Luft umher. Flüssiges Gold perlte von ihren Spitzen und funkelte im Feuerschein. Bald kreisten die Stacheln umeinander … schneller, immer schneller durchschnitten sie die Luft wie Dolche.
»Die Prophezeiung erfüllt sich«, rief Rumos. »Noch herrscht der Tag, doch bald sinkt Finsternis in unsre Sinne und hüllt in Schatten, was kein Mensch erblicken darf.«
Ein Geräusch schreckte ihn auf. Rumos starrte in den Himmel. Eine silberne Klaue löste sich aus der Dunkelheit. Sie schwirrte auf Laghanos zu: eine körperlose Hand. Behutsam tastete sie nach dem Jungen, als wolle sie spüren, ob Leben in ihm war.
Dann erschien eine zweite Klaue. Auch sie schwebte in die Ruine, packte Laghanos’ Fuß und schloss sich mit scharrendem Laut um den Knöchel.
»Das Heer des Auserkorenen erwacht«, kicherte Rumos. »Er, der die Menschen lehrt, ihr Schicksal selbst zu wählen … folgen sie den alten Lügen oder dem Ruf der Bathaquar, die willens und bereit ist, die Sphäre zu beherrschen?«
Sie kamen von allen Seiten geflogen: silberne Klauen, Hunderte! Das Heer der Beschlagenen suchte seinen Anführer. Am Grab der Kahida hatte es seine Spur verloren. Nun erwachten die Klauen und scharten sich wieder um Laghanos. Sie ordneten sich im Kreis an, krallten sich im Fleisch, im Haar des Knaben fest und hoben ihn behutsam von der Steinplatte. Laghanos schwebte in der Luft, noch immer ohne Bewusstsein. Die Klauen verharrten dort.
»Seine Macht ist nun vollkommen«, jauchzte Rumos. »Er trägt die Maske und den Mantel, und in ihm schwelt die Flamme … nun wird er erkennen, welch böses Spiel Durta Slargin mit ihm trieb! Er wird erwachen und Kahidas Stadt aus Trümmern neu entstehen lassen; und in ihr werden die Zauberer herrschen, die Zauberer der Bathaquar. Ja, Carputon, unsere Stunde naht …«
Er lauschte. Hörte er Stimmen in der Dunkelheit? Ein Säuseln hinter den Mauern der Ruine? Gequält starrte Rumos zum Himmel auf.
»Nein, Rumos … du lügst und weißt es auch. Der Herr der Schatten wird sich die Stadt nicht entreißen lassen, und Sternengänger glotzt uns an aus tausend Augen. Der Knabe Laghanos ist unser Untergang! Töte ihn, o Rumos, solange du es kannst … lass uns fortgehen, nur wir zwei … in einer Höhle verkriechen, Salz und Stein und Stille, unsere Augen schließen, schlafen, träumen … lass uns vergessen, was uns quält … den Tag vergessen, als wir in Moorbruch Slargins Knochen fraßen! Der Rosenstock trägt keine Blüten mehr, o Rumos! Töte das Kind und lass uns weiterziehen!«
Er blickte auf den schwelenden Knochen in seinem Arm. »Still, Carputon! Der Auserkorene muss seinen Weg zu Ende gehen – so wie wir, erbärmlich, wie wir sind. Der Schleier fällt, und wir vergehen wie altes Mauerwerk zu Sand! Sei still, Carputon!«
Er brach zusammen. Um ihn glommen die Silberklauen auf, die Laghanos in der Luft festhielten, und der Knabe zitterte, als ob ein düsterer Traum ihn martere.
KAPITEL 2
Mond
Eine Wolke zerriss am Nachthimmel. Hinter ihr trat der Mond hervor; eine dünne Sichel, die über den Dächern von Vara schimmerte. Ihr Licht verlieh der Stadt einen rätselhaften Zauber. Wie kostbare Seide glitzerte das Wasser der vielen Kanäle, die Spitze des Silbernen Doms glomm wie ein Zepter, und die gläsernen Türme, die sich aus den Gassen erhoben, reflektierten das Mondlicht wie Spiegel. So drangen die Strahlen in jeden Winkel von Vara und woben ein silbernes Netz um die Häuser, als wollte der Mond die Hauptstadt Sithars vor der Dunkelheit beschützen.
In der Nähe des Hafens, auf einem kleinen Vorplatz, flackerten hellere Lichter. In Eisenkörben brannte ein bläuliches Feuer. Es ließ die Gesichter der Männer, die sich auf dem Platz versammelt hatten, unwirklich erscheinen. Einige von ihnen waren Flammenhüter, Varas Nachtwächter, die sich seit jeher um die Beleuchtung der Straßen kümmerten. Die anderen waren schwer gerüstet: schwarze Helme, dunkle Brustplatten, Schwerter und Spieße und Streitkolben … die Ritter der Schwarzen und der Weißen Klippen. Sie hielten Wache. Denn nördlich des Platzes, wenige Straßenzüge entfernt, lag das Sterbende Vara, ein vermodertes, halb in die Tiefe gesunkenes Stadtviertel, von fauligem Wasser überflutet.
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