Splitternest
Schatten, was kein Mensch erblicken darf.« Sinustre fiel auf die Knie, presste die blutende Stirn auf die Stufen. »Ich werde euch führen … in den Abgrund … und wieder hinaus! Ich bringe euch zu Sternengängers Insel im Südmeer … ein letzter Gang durch das Verlies … der Schwarze Schlüssel heilt mein Fleisch … und euch bereitet er für eure letzte Reise vor … den Weltengang!«
Der Regen wurde stärker. Die Tropfen prasselten vom Himmel und zwangen den Schwan, seine Flügel herabzunehmen. Vor der Treppe begannen die Menschen einen Namen zu flüstern: »Uliman Thayrin! Unser Kaiser! Unser Retter!«, und sie wandten sich einander zu, der Vater seinem Kind, die Frau ihrem Gatten, der Stadtgardist dem troublinischen Kaufmann, der Staker dem reichen Großbürger; und sie ritzten sich gegenseitig mit den Spulen der Federn ein Zeichen in die Stirn … verblühende Rosen. Das Zeichen der Bathaquar.
Schatten krochen durch die Straßen, wälzten sich über das Pflaster wie die Wolken am Himmel. In ihrem Schutz schritten die Geister des Verlieses. Immer wieder glommen ihre Augen auf, und ein Flüstern hallte durch die Straßen.
»ALLES IST SO, WIE MONDSCHLUND ES VERSPRACH … DIE STADT ALLER STÄDTE IST WAHR GEWORDEN …«
Sie, die sich einst unter Schmerzen die Augen herausgerissen hatten, die in das Verlies hinabgesunken waren, um zu Geistern zu werden, kehrten an die Oberfläche zurück; ein Triumphzug durch die Straßen einer erwachenden Stadt. Doch sie waren nicht willkommen. Die Schattenbrut hatte nicht alle Winkel von Vara durchdrungen. Und so kam es zum blutigen Zusammenprall. Licht gegen Schatten. Leben gegen Halbleben. Todgeweihte gegen untote Geisterwesen.
Am Stillen See, wo so viele Kanäle zusammenflossen, tobte die letzte Schlacht. Tausende waren zum Ufer geströmt, Männer wie Frauen, bewaffnet mit Messern, Dolchen, Spießen … und Laternen! Ja, Licht und Feuer waren die wirksamsten Waffen gegen die Schatten. Flammenhüter fochten neben kaiserlichen Soldaten, Klippenritter neben Frauen mit schlichten Öllampen. Die einen leuchteten den anderen, versuchten die Bewaffneten im Lichtkegel zu halten. Denn die Schatten tränkten die Nacht, strömten durch die Straßen, versuchten die Verteidiger zu umschließen. Immer wieder gelang es ihnen; dann fiel ein Schwert oder eine Laterne zu Boden, ein SchePPPern, ein KliRRRen – und dann: schallendes Gelächter, befreiendes Jauchzen, während zitternde Finger sich unter Augenlider gruben …
»NUN SEHEN WIR ES … NUN SEHEN WIR, WIE SCHÖN SIE IST, UNSERE STADT!«
Aber Varas Bewohner waren nicht wehrlos. Dort drängten sie mit ihren Laternen die Schatten zurück, und die Geister des Verlieses schälten sich aus der Finsternis. Kaltes Funkeln in ihren goldenen Augen. Schreckverzerrte Gesichter, wenn die Schwerter der Klippenritter ihre Leiber durchstießen. Keine Todesschreie, keine Klagen. Sie sanken zu Boden mit einem Ausdruck des Erstaunens auf den Gesichtern. Mondschlund hatte ihnen Frieden versprochen, ein neues, besseres Leben in einer neuen, besseren Stadt. Nun endete es auf dem nassen Pflaster von Vara. Ihre Körper verdorrten, ihre Augen erloschen, während die Lebenden ihr grausiges Ende bejubelten.
»Tötet sie … für Kaiser Akendor … für die Gründer!«
Der Kampfschrei wogte am Seeufer. Zwar schwächte der Regen ihn ab, und doch wurde er von Unzähligen aufgegriffen und weitergetragen, bis in die letzten Winkel der verästelten Gassen, in denen Hunderte gegen das Schattenheer fochten.
»Lang lebe Kaiser Akendor … der Letzte des Silbernen Kreises … für Sithar! Für den Südbund! Für Vara!«
Doch das Blatt wendete sich. Die Schatten wagten sich wieder näher an die Laternen heran. Sie lösten sich von den Hauswänden, stiegen zum Himmel auf; dort schienen sie sich mit dem Regen zu vereinen, wanderten zwischen den herabsinkenden Schleiern umher und tropften mit ihm auf die Lebenden herab. Schwarze Tropfen trafen die Öllampen, verdunkelten ihre Glasscheiben, löschten die Lichter … schon sanken ihre Träger zu Boden. Lachen und Weinen, Verzweiflung und Wahn, vermischt zu düsteren Farben. Die Rufe nach Akendor verebbten zwischen Mauern aus Glas. Ein anderer Schlachtruf wurde laut, gerufen von den Geistern in einem gespenstischen Chor:
»FÜR DIE STADT ALLER STÄDTE … FÜR DAS KAISERLICHE PAAR, DAS UNS FÜHRT … SENKT EURE HÄUPTER VOR IHM, DEN MONDSCHLUND UNS ZU VEREHREN BEFIEHLT … SENKT EURE HÄUPTER VOR BANITER
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