Splitternest
Säuglings glatt. Er war so winzig, sein Gesicht rund, der Mund halb geöffnet; so ruhte er in Intharas Armen, friedlich und ohne Argwohn. Er wusste nichts von den Schrecken, die in Vara tobten.
Inthara von Arphat lächelte. Die Narbe in ihrem Mundwinkel schimmerte im Kerzenschein. Sie stand am Fenster des Saals und blickte auf die regenverhangene Stadt. Keine Lichter waren zu sehen, nur die Türme erstrahlten im Mondlicht. Zu hören war nur der prasselnde Regen. Vara schien zu schlummern. Aber Inthara wusste es besser.
»Sie kämpfen für dich, für die kommende Herrin dieser Stadt.« Sie streichelte sanft die Wange des Kinds, zart und olivfarben wie ihre eigene. »Deine Haut von Agihor geküsst und Augen wie die deines Vaters … Aber nun schlaf, kleine Sonne, schlaf. Diese Nacht ist zu dunkel für dich.«
Sie küsste das Mädchen auf die Stirn. Dann legte sie es behutsam auf das Bett, deckte den kleinen Körper zu und schritt durch den Saal. Sie ging langsam; noch immer schmerzte ihr Unterleib, die Folgen der schweren Geburt.
»GLAMS GESCHENK … NEHMT ES!« Am anderen Ende des Saals funkelten die Augen die Raquai-Priesterin. Sie war die einzige, die in Intharas Nähe geblieben war. Alle anderen Arphater hatte die Königin fortgeschickt, sie kämpften in den Straßen für Intharas Herrschaft. Ihre Verwandlung durch die Schatten hatte sie noch stärker und furchtloser werden lassen. Allein an den Außentoren hielten einige Anub-Ejan Wache; sie blickten mit goldenen Augen auf die Stadt und wisperten Intharas Namen. Ja, hier im Palast war sie sicher; keiner wagte sich zu dem Bau, der drohend, von Schatten umspielt, auf dem Hügel ruhte.
»SCHÜTZT EUCH, WENN DIE SCHATTEN NAHEN«, wisperte die Priesterin. »sie dürfen euch nichts tun … und NICHT EURER TOCHTER, DER WIEDERGEBORENEN SONNE.«
Inthara hatte das Ende des Saals erreicht. Von einer Anrichte nahm sie das silberne Kästchen, in dem Glams Geschenk ruhte. »Die Schatten machen mir keine Angst. Nicht mehr … ich ging nach Vara, um Arphat zu retten; ich tat alles, was die Götter mir durch Sai’Kanees Mund überlieferten. Nun ist Sai’Kanee fort. Sie wird nicht mehr aus dem Verlies zurückkehren. Ich muss allein entscheiden, wie ich mein Volk retten kann.« Sie öffnete das Kästchen und betrachtete die dunklen Brocken. »Glams Geschenk hat mir die Augen geöffnet. Wenn die Straßen von Vara verwandelt und die Sitharer besiegt sind, werden sich die Tore öffnen; und alle, die dort draußen vor den Goldéi zittern, finden Zuflucht hinter diesen Mauern. Tausende Arphater, die schutzlos umherirren, werden Vara in Besitz nehmen, in den Häusern eine neue Heimat finden … ganz so, wie ich es dem Anführer der Goldéi sagte. Quazzusdon wollte mir nicht glauben. Aber es ist wahr. Alles ist wahr.« Fast erschrocken schlug sie das Kästchen zu. »Und Baniter? Wird Ejo ihn finden? Kommt er bald zu mir, wie Sai’Kanee es versprach, um mit mir über Vara zu herrschen, um unser Kind in den Armen zu wiegen, um …« Sie hielt inne. »Was rede ich da nur! Ich komme mir vor wie ein Vogel in einem Käfig, der das falsche Lied trällert, das seine Herren ihm beibrachten.« Fragend blickte sie die Raquai-Priesterin an. Diese senkte ehrfürchtig den Kopf. Der flackernde Kerzenschein ließ ihre Augen unheimlich erstrahlen.
»IHR SEID DIE TOCHTER DES SONNENGOTTES … AGIHORS KIND … DAS BLUT DER GÖTTER FLIESST IN EUREN ADERN …«
Inthara schürzte verächtlich die Lippen. »Leere Worte. Leere Namen. Es fällt mir immer schwerer, an die Götter zu glauben. Ich wünschte, sie würden nicht über mein Leben bestimmen und mich in Ruhe lassen. Aber ich kann nicht zurück, das weiß ich. Ich muss den Weg weitergehen, der mir …«
Sie hielt mitten im Satz inne. Hinter der Raquai-Priesterin hatte sich etwas bewegt. Der Wandteppich, der die Mauer des Saals bedeckte … er wölbte sich! Ein scharrender Laut erklang.
Die Raquai-Priesterin schreckte auf. »die schatten … sie KOMMEN! SCHÜTZT EUCH, HERRIN! SCHÜTZT euch!«
Inthara griff nach dem Kästchen. Besorgt blickte sie auf den Wandteppich, dessen Ausbuchtung größer wurde.
Dann zerriss er. Eine Klinge schlitzte ihn von oben nach unten auf. Eine Hand schlug die Fetzen des Teppichs beiseite.
Aus der entstandenen Öffnung, einem Schacht in der Wand, stieg ein Mann; groß und breitschultrig, sein Gesicht rußgeschwärzt. In der Hand glänzte der Dolch.
»SCHÜTZT EUCH, HERRIN!«
Die Priesterin warf sich dem
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