Splitternest
letztes Aufblitzen der Mondstrahlen, dann schwärzte sich das Glas. Schatten rannen wie Wasser in den Turm und füllten ihn mit Finsternis.
Draußen erschollen Rufe, der triumphierende Chor der siegreichen Geister.
»FÜR KAISER BANITER GENEDER … FÜR MONDSCHLUND …«
Der Dachfirst von Gendor zersprang mit einem Krachen. Kupfersplitter regneten über den Stillen See, in dessen Fluten, von gläsernen Nadeln durchstochen, der Turm Gendor versank.
Das Boot schob sich schwerfällig durch das Wasser; mit kräftigen Ruderschlägen trieb Garalac es voran. Seine Augen blinzelten wachsam. Vor ihm endete der Tunnel und führte auf offenes Wasser.
»Der See Bredayn«, wisperte er. »Ihr hattet recht, Akendor. Der Kanal der Silbernen Münzen führt direkt dorthin.«
Akendor Thayrin saß hinter ihm. Sein Gesicht war gerötet, die Augen glänzten. »Natürlich, Garalac. Wie hätte ich den Weg je vergessen können? Ich bin ihn so oft im Traum gefahren, allein in einem Boot, so wie damals, als Syllana begraben wurde … Hör nur! Der Regen prasselt auf dem Wasser. Der Klang der Freiheit.« Er lächelte.
Das Boot glitt aus der Tunnelöffnung. Nun stürzte der Regen auf sie herab. Über ihnen schimmerte schwach der Mond. Der See Bredayn war größer als der Stille See, er zog sich länglich zwischen Varas Häuserzeilen entlang. Auch in seiner Mitte lag eine Insel. Auf ihr wuchsen mächtige Bäume, und eine niedrige Mauer schirmte sie vom Wasser ab. Ein Steg ragte in den See hinein.
»Wollt Ihr wirklich auf die Insel der Toten?« Garalac zog das Ruder ein. »Sie wissen, welchen Kanal wir genommen haben. Wenn Binhipar uns hier findet, wird er keine Gnade zeigen. Mich wird er töten, und Euch …«
»… zu den Hunden sperren?« Akendor sah zum Himmel auf; er genoss es, wie der kalte Regen auf sein Gesicht niederschlug. »Er kann mir nichts tun, was er mir nicht schon einmal getan hätte. Nein, Garalac – wenn er mich findet, dann ist es eben so. Aber jetzt, in diesem Augenblick, bin ich frei. Ich spüre es im ganzen Körper … seit Jahren habe ich mich nicht so frei gefühlt.« Er blickte seinen Leibwächter an. »Du hast mich aus dem Turm geholt. Das werde ich dir nie vergessen, Garalac. Niemals.«
Das Boot schlug sanft gegen den Pfeiler des Holzstegs. Dort waren andere Boote und Flöße vertäut, übersät mit Laub. Garalac steuerte behutsam an ihnen vorbei, zu den Sprossen einer Leiter, die auf den Steg führte. Ein Blatt sank von den Baumkronen herab, wurde vom Wind in ihr Boot geweht.
»Und doch müssen wir uns beeilen, mein Kaiser«, mahnte Garalac. »Wisst Ihr, wo das Grab Eurer Gemahlin ist? Dann lasst uns schnell dorthin gehen. Je eher wir die Insel verlassen, desto besser.«
»Ich werde sie nicht verlassen.« Akendor richtete sich auf. Das Boot schwankte gefährlich. »Du musst mich ziehen lassen, Garalac. Hier, auf der Insel der Toten, endet dein Dienst.« Er erklomm die erste Sprosse der Leiter.
Garalac schüttelte erschrocken den Kopf. »Nein! Ich darf Euch nicht aus den Augen lassen. Ich muss Euer Leben beschützen. Das habe ich Eurem Vater geschworen.« Er versuchte Akendor zurück ins Boot zu ziehen.
Dieser wehrte seine Hand ab. »Ich bin nicht Torsunt. Ich bin nicht der Sohn, den er sich wünschte, nicht der Kaiser, der ich hätte sein sollen. Und was du beschützen willst, ist die Kaiserkrone Sithars, das Erbe der Gründer. Doch von diesem Erbe ist nicht viel übrig geblieben … Sithar ist untergegangen, und ich bin frei. Frei zu leben. Frei zu sterben. Wie Syllana.« Er lächelte. »Du hast so oft mein Leben geschützt – zu oft, Garalac. Ich bitte dich nur um diesen letzten Gefallen … lass mich zurück.«
Sie sahen sich an. Garalac ließ das Ruder sinken. Er wirkte verzweifelt. »Ich habe es Torsunt geschworen!«
Akendor kletterte auf den Steg. Er stand im strömenden Regen und blickte zu Garalac hinab.
»Leb wohl.«
Der Troublinier blinzelte. Er wollte etwas erwidern, doch dann senkte er den Kopf.
Das Ruder glitt ins Wasser. Mit einem kräftigen Schlag lenkte Garalac das Boot zurück auf den See. Er wirkte klein und mutlos, ganz in sich zusammengesunken. Der Regen wirbelte sein rotes Haar auf.
Akendor wandte sich ab. Dann rannte er auf die Insel zu, die im Schatten der Bäume lag.
Er fühlte sich frei.
Das Kind schlief. Mit geschlossenen Augen ruhte es in den Armen der Königin. Sie stützte das Köpfchen mit der linken Hand; mit der anderen strich sie die feinen Haare des
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