Splitternest
zwitschern, sah einen von ihnen in die Höhe aufsteigen. Und vor mir auf dem Boden entdeckte ich die Spuren mehrerer Tiere. Abdrücke im Schlamm: die Hufe eines Hirschs und andere, größere Spuren, von schweren Kolossen.« Der Priester zögerte. »Mein König, ich glaube, es war ein Wald, den ich sah. Er war dort, aber nicht ganz. Er ist noch im Werden. Die Götter formen ihn, während wir …«
»Sprich nicht von Göttern, Delifor.« Der König rollte die Karte zusammen. »Vergiß sie. Deine Aufgabe ist es, all dies aufzuschreiben, was immer auch geschieht. Du wirst die Entstehung der Welt, die Ankunft der Gyraner und den Anbeginn meiner Herrschaft festhalten. Alles andere überlasse mir!«
»Ich soll die Götter vergessen?« rief Delifor erschrocken. »Das kann ich nicht! Ich bin ein Priester! Ich diene Candra …«
»Und mir.« Tarnac strich über die Schulter des jungen Priesters. Dieser zuckte zusammen. Nur einem Igrydes wurde die Ehre zuteil, vom König berührt zu werden. Benommen neigte er den Kopf.
»Vergiß Candra und die anderen Götter«, hörte er Tarnac wispern. »Nun werden wir selbst zu Göttern. Wir erschaffen die Welt neu, und uns ebenso. Ich brauche kluge Männer um mich. Du kannst einer von ihnen sein, Delifor – wenn du meine Taten brav aufschreibst und mich so unsterblich machst.«
Er reichte dem Priester die Karte. Delifor nahm sie rasch an sich, umklammerte sie mit beiden Händen.
Zu zweit blickten sie auf das Haff. Dort segelte ein Schiff, eine riesige Barke, durch Venetors Schere. Der Bug war von undurchdringlicher Schwärze, düster wie die Nacht, und die Segel schlackerten wie große Flügel. Delifor konnte das Schiff kaum ansehen. Seine Augen begannen zu tränen.
»Die Schwarze Barke«, flüsterte neben ihm der König. »Das Schiff der Südsegler.« Er winkte die Igrydes zu sich. »Folgt mir … auch du, Delifor.«
Er strich seine Robe glatt. Dann ging er auf dem Steg der Barke entgegen, die von den einströmenden Wellen in das Haff geschoben wurde.
Die Barke der Schwarzen Erkenntnis glitt lautlos durch das Wasser, wie von einem unsichtbaren Faden gezogen. Der Schiffsleib lag tief im Haff, doch nicht ein Tropfen blieb an dem dunklen Metall haften. Der Schwarze Schlüssel stieß die Fluten von sich: Er schimmerte unheilvoll und stählern im Sonnenlicht. Die Barke folgte dem ihr vorbestimmten Weg und steuerte dem Land entgegen … Sternengängers neuem Kontinent.
Am Bug stand Jundala Geneder. Sie trug ein blaues Kleid. Ihr Haar war offen, es wehte im Wind. Ihre Finger verkrallten sich in der dunklen Reling. Die goldglimmenden Augen waren auf die Stege des Haffs gerichtet, und die blassen Lippen formten einen Reim, der im Flattern der Segel kaum zu hören war.
»Die ewige Suche ist endlich vollendet, die Schriften enthüllten das eherne Land. Die Barke, sie trägt uns schon bald an die Küste, mit der uns das Schicksal seit jeher verband.«
Jundala hielt inne. Ihr Gesicht verzog sich vor Schmerz. Fremd war die Küste, der sie entgegenfuhren, ihr Anblick verzerrt. Denn Jundalas Augen waren tot und golden, vom Schwarzen Schlüssel beherrscht. Das Metall der Sphäre zwang sie zu sehen, was ihre eigenen Augen nicht hatten sehen können: den Südkontinent, geboren aus dem Meer, geformt von der Sphäre.
»Wir folgten den Worten der Weisen von Yptir, wir suchten den Schlüssel in Varas Verlies; wir flochten die Barke der Schwarzen Erkenntnis …«
Ihre Stimme zitterte. Nur mühsam brachte sie den Reim zu Ende, den die Südsegler sie gelehrt hatten.
»… die uns der Retter in Vara verhieß.«
Aber Vara war fern, lag an einem anderen Ufer, und Jundala war verdammt dazu, mit den Südseglern den Südkontinent zu erkunden. Die Barke der Schwarzen Erkenntnis ging niemals vor Anker; sie umrundete die Küsten, drang selbst durch festes Land, verschmolz mit den Steinen, glitt über Felsen hinweg, und der Schwarze Schlüssel öffnete die Tore, hinter denen die neue Welt lag.
»Die Suche, die Suche muss weitergehen«, flüsterte Jundala. »Wo bist du, Baniter? Erinnerst du dich daran, wie ich dir einmal sagte, dass aus Mord immer nur neuer Mord entsteht? Ich sah uns mit offenen Augen ins Unglück schreiten und tat nichts dagegen. Ich kehrte nicht um auf diesem Pfad, riss dich nicht mit mir. Wir kämpften um die Ehre deiner Familie, setzten dafür alles aufs Spiel … unsere Liebe, unsere Kinder, unser Augenlicht. Ach, Baniter, du warst ebenso blind wie ich; und könnte ich noch einmal
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