Splitterseelen
musste zugeben, dass er sich in den Menschen verliebt hatte. Über die Jahre hinweg hatte er Zeit und Gelegenheit gehabt, Jason zu studieren. Sein Zwilling hatte nach dem Tod seiner Eltern eine anrührende Aura angenommen. Calael würde niemals vergessen, wie Jason in seinem Bett gelegen hatte, als Andina seine Eltern abschlachten ließ. Voller Angst, voller Wissen um das Geschehen, voller Entsetzen und trotzdem bereit, ebenfalls zu sterben, sollten die Einbrecher auch sein Zimmer betreten. Und trotz allem hatte in seinem innersten Kern eine Ruhe gelegen, um die ihn Calael bewundert hatte. Sie war die Quelle von Jasons Macht. Einer Macht, von der sein Zwilling bis vor kurzem nie etwas geahnt hatte. Im Laufe der Jahre hatte sich Jason zu einem selbstbewussten Mann entwickelt, der nichts, nicht die kleinste Gegebenheit, als selbstverständlich hinnahm. Jason lebte sein Leben wie jemand, für den es kein Morgen gab. Er befand sich im Heute wie kein anderer. Dass er unbedingt Aikido lernen wollte, hatte Calael dagegen insgeheim belächelt. Für jemanden, der darauf geschult war, seinen Gegner möglichst aggressiv und damit effektiv auszuschalten, war Aikido ein Witz. Zu seiner Überraschung hatte sich Jason allerdings mit dem Sport wohl gefühlt. Die Übungen hatten seinen Geist befreit und diese innere Ausgeglichenheit hatte sich über den Seelenstein auf Calael übertragen. Er hatte begriffen, dass Jason kein Softie war, sondern über eine Stärke verfügte, die es zu bewundern galt. Und nach ein paar Jahren hatte sich Calaels Bewundern in Verliebtheit gewandelt. Damit fing das Hin und Her seiner Gefühle an: Er zerriss sich förmlich zwischen der Loyalität seiner Familie gegenüber und seiner Liebe zu Jason. Nirta hatte es fertig gebracht, seine wahren Empfindungen herauszufinden. Anfangs hatte sie ihn noch verspottet und plötzlich schien sich ihr Spott von einem Tag auf den anderen in Mitleid verwandelt zu haben. Dieses Mitleid war irritierend.
,Ich will dich nicht an die Welt der Menschen verlieren‘, hatte sie ihm auf seine Frage hin erklärt. ,Du wirst dort nicht überleben.‘
Was völliger Blödsinn war, denn andere hatten ebenfalls die Welt ihrer Seelenzwillinge gewählt. Und ohne Erinnerungen an Udeah – wie wollte man da etwas vermissen?
Seither hatte Nirta ihn ständig bekniet, sich für seine Familie zu entscheiden. Und dabei ganz bewusst ihr magisches Talent der Überzeugung eingesetzt. Nun war Nirta nicht da gewesen, um ihn zu beeinflussen, und er hatte Jason geküsst. So süß … Der Adra legte sich in eine weitere Kurve und aus den Augenwinkeln nahm Calael plötzlich eine Bewegung wahr.
Zurück !, befahl er dem Vogel gedanklich, ein Befehl, dem das Tier wegen der hier herrschenden Aufwinde nicht Folge leisten konnte. Daher musste er sich in Geduld üben, bis sie den Berg erneut umrundet hatten. Dort! Tatsächlich entdeckte er zwei Gestalten, die sich auf einem winzigen Plateau aneinanderklammerten. Wie waren sie da bloß hinauf gelangt? Wollte Mijo seinen Jason etwa umbringen? Er würde den Adra eine weitere Schleife fliegen lassen, ihn dichter an den Fels heranbringen, sich aus dem Schnabel beugen und Jason schnappen. Eine riskante Aktion, aber Calael vertraute auf seine Fähigkeiten. Plötzlich wurde er von einem hellen Lichtstrahl geblendet. Etwas hatte die Sonne reflektiert, etwas, das sich auf dem Plateau befand … Ein Spiegel!
„Nein !“ Calael streckte in einer unsinnigen Geste die Hand aus. Doch Jason und Mijo verschwanden, als hätte es sie auf den Felsen niemals gegeben.
Was Nirta ihr da eröffnete, schockierte Andina nicht wirklich. Irgendwie hatte sie immer geahnt, dass ihr Volk diejenigen, die sich gegen Udeah und für ihre Zwillinge entschieden, nicht mit einem neuen Leben belohnten. Sie hatte einmal gehört, wie ihr Vater diese Leute als Verräter bezeichnete. Und Verräter ließ man nicht einfach ziehen. Andina bemerkte, wie Nirta sie beobachtete und auf eine Reaktion lauerte.
„Es wird niemand gezwungen, sich für die Menschenwelt zu entscheiden“, wiederholte Andina behutsam, während ihre Gedanken rasten und sie das Für und Wider einer Torzerstörung abwog.
„Würdest du dich gegen Udeah entscheiden, wenn du wüsstest, dass du in diesem Fall umgebracht wirst?“
Natürlich nicht, das war eine wirklich dumme Frage. Ein Stückweit konnte sie die Verantwortlichen sogar verstehen. So trennte man die Spreu vom Weizen … Andererseits wäre man die Schwachen
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