Splitterwelten 01 - Zeichen
nicht mehr weit«, meldete Wits. »Tempel von Thong nicht mehr weit.«
»Ein Tempel?«, fragte Jago skeptisch nach. »Von einem Tempel hat der Rattenzahn bislang nichts gesagt. Das gefällt mir nicht. Das gefällt mir ganz und gar nicht.«
Auch Kieron konnte nicht behaupten, dass er sich wohlfühlte in seiner Haut. Nicht nur, weil er das Gefühl hatte, schon einmal hier gewesen zu sein. Sondern auch, weil eine Ahnung von dumpfer Bedrohung über diesem Stollen lag – und ein bitterer, ekelerregender Gestank, der sich mit jedem Schritt noch steigerte.
»Riecht ihr das auch?«, fragte Jago, während er die Schnauze hochhielt und geräuschvoll schnüffelte. »Dieser Geruch kommt mir bekannt vor.«
»Wahrscheinlich aus der Küche deines Lokals«, knurrte Croy. »Das ist der Odem der Verwesung. Wer ihn einmal gerochen hat, vergisst ihn so leicht nicht wieder.«
Wits führte sie unbeirrt weiter. Der Gestank schien den Rattenmann nicht zu stören, allerdings war er merklich unruhig geworden. Nervös blickte er sich um. Seine Nasenfühler bebten dabei, die Krallenhand mit der Fackel zitterte.
»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Kieron.
Der Rattenmann nickte und entblößte die großen Schneidezähne zu einem Grinsen – als der Stollen plötzlich endete. Vor ihnen lag eine Pforte.
Es war ein einflügeliges Tor aus massivem Metall, das weit offen stand; einst mochte es in grellen Farben bemalt gewesen sein, inzwischen jedoch war kaum noch etwas davon übrig. Rost hatte das riesige Gebilde, das einen Klafter dick und mindestens viermal so hoch war, zerfressen. Jedoch war deutlich das Zeichen zu erkennen, das jemand mit dunkler, nach unten zerlaufener Farbe darauf gemalt hatte.
Zwei Halbkreise, die einander im Scheitel berührten, von einem lotrecht verlaufenden Balken durchkreuzt.
»Seht euch das an!«, rief Jago aufgeregt. »Das ist das Zeichen von Novaros Pergament! Offenbar wusste das verdammte Schlitzohr tatsächlich, dass es hier etwas zu holen gibt.«
»Offenbar«, bestätigte Croy grimmig. »Fragt sich nur, was.«
»Komm schon, kannst du nicht zur Abwechslung mal zufrieden sein? Wir haben es geschafft, unentdeckt hierherzugelangen und das dämliche Zeichen zu finden, das ist doch was. Nun brauchen wir bloß noch …«
Jago verstummte, als er mit dem Fuß gegen etwas stieß, das mit hohlem Knirschen davonkullerte. Er bückte sich und hob es vom Boden auf – um zu erkennen, dass es der Schädel eines Menschen war, der ihn aus leeren Augenhöhlen anstarrte.
Mit einem Aufschrei warf der Chamäleonide den grausigen Fund von sich. »Habt ihr gesehen?«, fragte er aufgebracht die anderen, die bereits durch das Tor getreten waren. »Da liegt ein … ein …«
Die Worte blieben ihm abermals in seinem kurzen Hals stecken – denn jenseits der Pforte übersäten unzählige Skelette den Boden, der so glatt und nahtlos war, als hätte Zauberkraft ihn zusammengefügt.
Nicht nur solche von Menschen waren darunter, die an ihrem charakteristischen Körperbau leicht zu erkennen waren, sondern auch von Animalen; die schmalen Wirbel von Schlangenmenschen, die gehörnten Schädel von Tauriden, die flachen Schädel von Echsenkriegern und die stumpigen Knochen von Rattenmännern – alles lag auf groteske Weise durcheinander. Nicht alle Leichen waren komplett verwest, an manchen hingen noch Fetzen fauligen Fleisches, die die Ursache des beißenden Gestanks waren und dafür sorgten, dass Jago geräuschvoll zu würgen begann.
»Was, beim finsteren Orcus, ist das hier?«, ächzte er.
»Ein Friedhof«, vermutete Croy.
»Nein«, widersprach Kieron schaudernd. »Ich haaa-habe das schon einmal gesehen, damals, in meinem Traum. Das Monstrum … eee-es ist hier.«
Jeder seiner Begleiter reagierte auf seine Weise. Jago, indem er leise Verwünschungen murmelte. Croy, indem er seine Dolche zog. Wits, indem er leise kicherte.
»Was gibt’s da zu lachen, Fettkloß?«, fuhr Jago ihn an.
»Ihr kämpfen?«, fragte der Rattenmann, auf Croy und seine Dolche deutend. »Gegen Thong?«
»Thong hat das getan?«, fragte Kieron, auf die Gebeine deutend.
»Thong«, bestätigte Wits und beschrieb eine ausladende Bewegung mit den Klauen, in denen er seinen Speer und die Fackel hielt. »Großer Donnerer!«
»Und dieses Zeichen?«, fragte Kieron, in Richtung der Pforte deutend.
»Thongs Zeichen«, erwiderte der Rattenmann, »geschrieben mit Blut von Opfer.«
Geschrieben mit Blut …
Schaudernd blickte Kieron über die Schulter zurück,
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