Splitterwelten 01 - Zeichen
äußerliche Erkennungszeichen dafür, dass sie ihre Kräfte zum Einsatz brachte.
»Woher hatte der Hofnarr seine Kenntnisse?«, erhob sich ihre Stimme über das Geschrei des Mannes. »Werden bei Hofe verbotene Wissenschaften betrieben? Haben nokturne Mächte auf Tridentia Fuß gefasst? Wenn ja, woher kommen sie? Von Agora? Haben die gelehrten Lästermäuler dort wieder ihr Gift verbreitet …?«
Der Diener krümmte sich auf der Folterbank. Hilflos schlug er mit den Beinen, während sich eine unsichtbare Hand durch seine Eingeweide wühlte und sein Herz zusammenpresste. Die Qualen, die er litt, mussten fürchterlich sein – doch sein Schweigen brach er nicht. Einen langgezogenen Schrei auf den Lippen, griff er sich an die Brust – die im nächsten Moment zerquetscht wurde.
Man konnte sehen, wie die Rippen unter dem Stoff des Gefangenenhemdes nachgaben. Der Gefangene schrie auf, ein letzter verzweifelter Protest gegen die Gewalt, die ihm angetan wurde – dann, mit einem schrecklich profanen Geräusch, färbte sich die schmutzige Tunika auf Höhe seines Herzens blutig rot. Leblos schlug er auf die Folterbank zurück und blieb liegen, Arme und Beine von sich gestreckt.
Stille trat ein.
Prisca war wie erstarrt.
Sie atmete wieder, aber die Luft, die sie in ihre Lungen sog, schmeckte schal und abgestanden und roch nach Blut. Der Herzschlag der Schülerin raste, sie kämpfte mit der Übelkeit, während sie fassungslos auf den grässlich entstellten Leichnam starrte.
»Was hast du?«, fragte Harona.
»Ihr … habt ihn getötet.«
»Irrtum. Er hat sich selbst getötet. Hätte er sein Schweigen gebrochen, hätte es dazu nicht zu kommen brauchen.«
»Ihr habt ihn getötet«, wiederholte Prisca noch einmal. »Der Codex …«
»Der Codex erlaubt uns, uns mittels unserer Kräfte zu verteidigen, wenn wir angegriffen werden.«
»Das ist wahr.« Prisca nickte. »Aber dieser Mann hat Euch nicht angegriffen, Meisterin. Er … er war völlig wehrlos.« Die Stimme versagte ihr.
»Wehrlos?«, fragte Harona. »Du sagst, er hätte uns nicht angegriffen? Wie nennst du das, was wir gesehen haben, als wir den Thronsaal betraten? Wie nennst du das, was dieser Hofnarr getan hat? War das kein Angriff auf die Gilde? Auf unsere Ehre und unser Ansehen?«
»Gewiss, aber …«
»Und hat mir nicht der König selbst gestattet, die Schuldigen ausfindig zu machen und zu bestrafen?«
»Auch das«, räumte Prisca ein, »aber wie könnt Ihr sicher sein, dass dieser Mann hier schuldig war? Vielleicht wusste er tatsächlich nichts und …«
»Das nehme ich an«, erklärte Harona knapp.
»Ihr … Ihr nehmt es an?«
»Offen gestanden hätte es mich gewundert, wenn uns dieser hier etwas hätte verraten können. Dennoch hat er uns und der Gilde einen wertvollen Dienst erwiesen – denn von nun an werden all jene gewarnt sein, die glauben, das Gesetz brechen und unsere von der Natur und dem Schicksal gewollten Ansprüche vor aller Welt lächerlich machen zu können. Wir haben ein Exempel statuiert, und es werden weitere folgen.«
»Wie … wie meint Ihr das?«
»Natürlich werden wir weiter nach den Schuldigen suchen. Es ist offenkundig, dass nokturne Mächte am Hof Fuß gefasst haben, und wir werden mit ihnen verfahren, wie man mit Unkraut verfährt – wir werden es packen und samt der Wurzel ausreißen.«
»Ihr meint, noch mehr Verhaftungen? Noch mehr Folterungen?«
»Mehr Gerechtigkeit«, entgegnete Harona. Ihr Blick verhärtete sich und wurde forschend. »Solltest du ein Problem damit haben, Schülerin? Bereust du bereits, was du mir versprochen hast? Scheiterst du an deiner ersten Bewährung?«
»Nein, Meisterin«, versicherte Prisca. »Meine Loyalität und mein Vertrauen gehören Euch.«
»Das ist gut.« Die numerata nickte. »Denn in diesen Tagen ist es wichtiger denn je, dass du mir vertraust. Im Leben einer jeden Gildeschwester kommt der Zeitpunkt, da sie Ethera verlassen und sich der Wirklichkeit stellen, da sie lernen muss, was es bedeutet, eine Gildemeisterin zu sein und Verantwortung zu tragen. Bist du bereit, diese Bürde auf dich zu nehmen? Die Wahrheit nicht aus den Augen zu verlieren und dich keiner Macht des Sanktuarions zu beugen, so groß und bedeutend sie auch sein möge?«
»Das bin ich, Meisterin«, versicherte Prisca. Vorsichtshalber wandte sie sich von dem Diener ab, in dem sie nicht länger ein unschuldiges Opfer, sondern einen kalkulierten Verlust zu sehen hatte.
»Dann lass alle deine Zweifel fahren,
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