Splitterwelten 01 - Zeichen
bevorstehenden Sturzes in die Tiefe war dieses Ansinnen aussichtslos. Schon war die Volanta dabei, sich weiter zur Seite zu neigen, einige Fässer, die sich gelöst hatten, durchschlugen die Reling und gingen über Bord – und es war nur eine Frage der Zeit, wann der Rest des Schiffes ihnen folgen würde …
»Wie schlimm ist es?«, erkundigte sich Kalliope gehetzt beim medicus , der Cedara notdürftig untersucht hatte.
»Sie hat das Bewusstsein verloren«, rief der Heiler mit vor Panik heiserer Stimme. Was das bedeutete, musste er nicht aussprechen. Sie würden alle sterben.
Wie um Kalliopes Befürchtung zu unterstreichen, neigte sich die Volanta noch weiter nach backbord, wodurch sie zum Spielball der Elemente wurde. Das Großsegel blähte sich, als ein schwerer Windstoß es erfasste, und mit einem hässlichen Geräusch riss der Stoff. Taue flatterten lose im Gewirr der Schneeflocken, die der Wind über das Deck peitschte, aber niemand kümmerte sich mehr darum. Panisch rannten die Luftschiffer umher und schrien um Hilfe, obschon sie wussten, dass sie nichts mehr retten konnte.
»Urmutter, hilf uns!«
Auch Kalliope fühlte Panik, doch im selben Moment, in dem sie die Schöpferin um Beistand anflehte, bemächtigte sich ihrer eine seltsame Ruhe. Sie besann sich auf das, was sie gelernt hatte, auf ihr arcanum , auf jenen geheimen Ort tief in ihrem Inneren, der frei war von Furcht und aus dem sie ihre Kraft schöpfte. Zu ihrer eigenen Verblüffung fand sie ihn, just in dem Augenblick, da sich das Schiff vollends zur Seite neigen und kopfüber in die Tiefe stürzen wollte.
Es war der Augenblick der Rettung.
Statt ihre Besatzung von ihrem breiten Rücken zu schütteln, stabilisierte sich die Volanta plötzlich wieder. Knarrend richtete sich der im Absturz befindliche Segler wieder auf, den eisigen Winden zum Trotz, die an ihm zerrten und das Deck erbeben ließen. Auch der Bug hob sich wieder, und im nächsten Moment lag das Schiff wieder im Wind, leicht mitgenommen und mit zerfetztem Segel, ansonsten jedoch unbeschadet.
Kalliopes erster Gedanke galt Meisterin Cedara. Dankbar blickte sie zu ihrer Lehrerin hinüber, die offenbar noch rechtzeitig aus ihrer Ohnmacht erwacht war – doch zu ihrer maßlosen Überraschung lag die Levitatin noch immer bewusstlos auf den Planken. Noch während Kalliope sich fragte, was es denn gewesen sein mochte, das das Schiff und seine Besatzung vor dem bereits sicher geglaubten Ende bewahrt hatte, bemerkte sie plötzlich, dass aller Augen auf sie gerichtet waren.
Kapitän Baramiro, Bootsmann Kelso und sogar der Schiffsarzt – sie alle starrten auf sie, in ihren Gesichtern einen Ausdruck zwischen Staunen und Bewunderung.
Und dann erst begriff Kalliope.
Die Männer bedachten sie mit diesen Blicken, weil ihre eigenen Augen weiß und trüb geworden waren. Und weil nicht Cedara, sondern Kalliope es gewesen war, die das Schiff vor der sicheren Zerstörung bewahrt und damit allen an Bord das Leben gerettet hatte.
Der Gedanke war ungeheuerlich. Doch niemand außer ihr besaß sonst die Fähigkeit zur Levitation. Im entscheidenden Moment hatte Kalliope ihre Furcht und ihre Unsicherheit überwunden und war über sich selbst hinausgewachsen.
Die Schülerin konnte ihr Glück kaum fassen. Energisch mahnte Kalliope sich zur Ruhe, um das eben erst gewonnene Gleichgewicht nicht gleich wieder zu verlieren. Vorsichtig erhob sie sich und breitete die Arme aus, fühlte das Gewicht des Schiffes auf sich ruhen – aber anders als zuvor erschrak sie nicht mehr darüber.
Kapitän Baramiro trat auf sie zu und verbeugte sich tief. »Das Schiff und seine ganze Besatzung stehen tief in Eurer Schuld, Gildeschülerin. Habt Dank für Euer Eingreifen.«
Kalliope nickte nur – sie fürchtete, die Konzentration zu verlieren, wenn sie etwas erwiderte.
»Wünscht Ihr, dass ich Euch an Euren Platz geleite, Levitatin?«
Kalliope nickte erneut. Und obwohl der Codex der Schwesternschaft jede Form von Eitelkeit untersagte, fühlte sie, wie eine Woge von Stolz sie durchlief, als sie dem Kapitän von der Achterplattform zum darunter liegenden Deck folgte, wo sich der Sitz der Levitatin befand.
Der Weg dorthin kam einem Triumphzug gleich.
Die Luftschiffer, die sofort begriffen hatten, was geschehen war, jubelten Kalliope lauthals zu. Aus misstrauischer Ablehnung war innerhalb von Augenblicken dankbare Zuneigung geworden, eine Wendung, mit der niemand – am allerwenigsten Kalliope selbst – gerechnet hatte.
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