Splitterwelten 01 - Zeichen
Unerschrockene einzuschüchtern – um wie viel mehr eine Schülerin, an der ohnehin schon Furcht und Selbstzweifel nagen?«
Kalliope biss sich auf die Lippen. Cedara hatte es gesagt, ohne dabei bitter oder tadelnd zu klingen, dennoch trafen ihre Worte sie bis ins Mark. Natürlich, es stimmte, Angst und Zweifel waren ihre ständigen Begleiter, seit sie die Gildewelt verlassen hatten, und sie hatte bei fast jeder sich bietenden Gelegenheit versagt – es jedoch so deutlich gesagt zu bekommen, kränkte Kalliope, und fast augenblicklich fühlte sie, wie sich in ihr Widerstand regte.
Sie sog die eisige Luft in ihre Lungen, schöpfte Atem, um ihrer Meisterin zu sagen, dass sie zwar Rückschläge erlitten habe und der Abschied von Ethera ihr schwergefallen sei, dass sie aber auch willens und in der Lage sei, ihren Pflichten als Gildeschülerin weiterhin nachzukommen, und dass sie ihr Ziel, dereinst eine Levitatin zu werden, weiterverfolge.
Dass es nicht dazu kam, lag an dem Blitz, der durch den grauen Himmel zuckte und den Nebel blendend weiß aufflackern ließ. Fast gleichzeitig erfolgte ein Donnerschlag, so laut und heftig, dass er Cedara aus ihrer Konzentration riss und ihr die Kontrolle über das Schiff für einen Augenblick entglitt.
»Meisterin …?«
Die Ereignisse überstürzten sich.
Das Achterdeck der Volanta sackte in die Tiefe, das Schiff bäumte sich auf wie ein störrisches Tier. Erschrocken sah Kalliope den Bug in die Höhe wachsen, ein albtraumhafter Anblick, der noch verschärft wurde durch die Männer, die vergeblich nach Halt suchten und unter lautem Geschrei über das steil aufragende Oberdeck schlitterten.
Auch Kalliope geriet ins Taumeln, da sie jedoch am Rand der Plattform gestanden hatte, konnte sie sich am Schanzkleid des Achterkastells einklammern – anders als ihre Meisterin.
Auch Cedara wollte sich an den hölzernen Zinnen festhalten, doch ihre Hände griffen ins Leere. Die Meisterin gab einen gellenden Schrei von sich, der jäh endete, als sie gegen das Schanzkleid schlug. Benommen sank die Levitatin daran herab, Blut rann aus einer Wunde an ihrem Kopf.
»Meisterin!«
Kalliope eilte zu ihr, quer über das schwankende Deck. Cedara lag auf den Planken, das graue Haar blutverschmiert. Ihre Augen jedoch waren noch immer milchig weiß, was darauf schließen ließ, dass sie die Levitation noch aufrechterhielt. Tatsächlich hatte sich die Lage des Schiffes stabilisiert, der Bug sich wieder gesenkt. Reglos, aber mit heftiger Schlagseite stand die Volanta inmitten des Schneetreibens und des Windes, der heulend von Nordosten heranpfiff.
Kalliope fiel bei ihrer Meisterin nieder. Cedara blutete heftig aus der Kopfwunde, die sie davongetragen hatte. Vergeblich versuchte sie, sich aufzurichten.
»Hilf mir, Kind«, stieß sie hervor und streckte Kalliope ihre zitternde Rechte entgegen. »Hilf mir auf die Beine …«
Die Schülerin kam der Aufforderung nach, doch Cedara war zu benommen, um aufrecht stehen zu bleiben.
»Hilfe!«, schrie Kalliope aus Leibeskräften. »Wir brauchen Hilfe! Die Levitatin ist verletzt!«
Nicht nur der Sturz und die Verletzung hatten die Gildemeisterin geschwächt, sondern auch der Flug durch den Nebel. »Das Nox«, flüsterte sie, »es ist zu nah … Der Einfluss der ewigen Nacht ist zu stark … ich verliere die Balance …«
»Nein, Meisterin«, widersprach Kalliope beschwörend, »Ihr dürft die Balance nicht verlieren. Denkt nur an die Verantwortung, an die vielen Menschenleben …«
Cedaras vor Anstrengung verzerrten Gesichtszügen war anzusehen, dass sie alles daransetzte, die Konzentration aufrechtzuerhalten und das Schiff und seine Besatzung vor dem Sturz in die Tiefe zu bewahren – doch der Blick ihrer Augen klärte sich, ein sicheres Erkennungszeichen dafür, dass die Levitation zu Ende ging.
»Gildemeisterin!« Kapitän Baramiro kam atemlos auf der Achterplattform an, den medicus im Gefolge, einen ältlich aussehenden Mann, dessen Robe ihn als Abkömmling von Agora auswies.
»Sie ist gestürzt«, erklärte Kalliope. »Sie verliert das Bewusstsein – und damit auch die Kontrolle über das Schiff.«
»Verdammt!«, rief Baramiro, während der Arzt begann, Cedaras Verletzungen zu untersuchen. Der Kapitän eilte zum Rand der Plattform und rief seinem Bootsmann etwas zu, das Kalliope nicht verstand, weil der Wind die Worte davontrug. Vermutlich hatte er befohlen, den nächstgelegenen Weltensplitter anzulaufen, aber angesichts des unmittelbar
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