Splitterwelten 01 - Zeichen
denn was wir in diesen Tagen, da sich der Himmel über uns verdunkelt und wir uns neuen Gefahren ausgesetzt sehen, mehr als alles andere brauchen, sind Schwestern, die unserer Sache treu und widerspruchslos ergeben sind.«
»Ist es denn wirklich so schlimm?«, fragte die Schülerin. »Befindet sich die Gilde tatsächlich in solch großer Gefahr?«
Harona betrachtete sie lange und nachdenklich.
»Nicht nur die Gilde, Kind«, sagte sie dann. »Das Sanktuarion und all seine Welten sind in diesen Tagen in Gefahr – und es ist an uns, sie zu retten.«
19. Kapitel
Es war das erste Mal, dass Kalliope Schnee erblickte.
Die schieferfarbenen Wolken, die den Himmel verfinsterten, hatten sich in den letzten Tagen mehr und mehr verdichtet, bis die Volanta schließlich völlig davon eingehüllt war. Umgeben von dichtem Nebel war das Frachtschiff immer noch höher gestiegen, doch die geringe Sicht hatte es nötig gemacht, die Beisegel zu reffen und die Fahrt zu verlangsamen. Und dann, unvermittelt, hatte es zu schneien begonnen.
Von der Plattform des Achterkastells aus bestaunte Kalliope die winzigen Flocken, die aus dem grauen Himmel fielen, um sich in der bodenlosen Tiefe des Sanktuarions zu verlieren oder auf den Planken der Volanta niederzulassen, wo sie zunächst schmolzen und kleine Wassertropfen hinterließen. Doch je länger der Schneefall andauerte und je kälter es wurde, desto mehr Flocken verbanden sich zu einer weißen Schicht, die schließlich das gesamte Oberdeck, die Reling und die Rahen überzog. Es bestand kein Zweifel – sie hatten die Grenze zu den Winterwelten überquert. Für Meisterin Cedara bedeutete dies, dass sie mit noch größerer Konzentration und Sorgfalt ans Werk gehen musste, denn je näher sie dem Rand des Sanktuarions kamen, desto schwächer wurden ihre Kräfte.
»Was fühlst du?«, fragte die Meisterin, die ihren Platz verlassen und mit ihr die Plattform des Achterkastells erklommen hatte. Die Unterarme behielt sie dabei abgewinkelt, um sich selbst an die Last und die Verantwortung zu erinnern, die sie trug.
Kalliope lauschte in sich hinein. Die Fähigkeit, sich selbst zu betrachten und das Innerste einer neutralen Prüfung zu unterziehen, wurde den Gildeschülerinnen von frühester Jugend an beigebracht. Es war die Voraussetzung dafür, Gleichgewicht zu erlangen und es auch in angespannten Situationen zu behalten. Dennoch war Kalliope im Augenblick weit davon entfernt, die innere Balance zu finden. Noch immer fühlte sie Verwirrung und Schmerz, und die Gespräche, die sie mit ihrer Meisterin geführt hatte, hatten nicht dazu beigetragen, dies zu verbessern. Und es gab eine Empfindung, die alle anderen überwog.
»Kälte«, sprach Kalliope das aus, was ihr durch den Kopf ging. »Vor allem spüre ich eisige Kälte. Nicht nur von außen, sondern auch von innen.«
»Das ist das Nox, die ewige Nacht«, stellte Cedara fest. Mit dem Kinn deutete sie hinaus in den milchigen Nebel, durch den die Schneeflocken flirrten. »Am Tage vermögen wir es nicht zu sehen, dennoch ist es da – und hier am Rand sind wir ihm um vieles näher als auf den Innenwelten.«
»Warum werden unsere Kräfte schwächer, je weiter wir uns dem Nox nähern?«, erkundigte sich Kalliope.
Cedara lächelte schwach. »Das weiß niemand genau zu sagen. Die einen behaupten, dass das Nox eine riesige, undurchdringliche Wand sei und die Sterne winzige Augen, die auf uns blickten. Andere sagen, dass es ein undurchdringlicher Nebel sei, ein schwarzer Schleier, der das Sanktuarion umgebe, vom obersten Pol bis hinab zum Mahlstrom, der alles Weltenwasser verschlingt. Eines jedoch wissen wir genau – dass es vom Bösen erfüllt ist, von einer dunklen Macht, die unsere Kräfte schwächt.«
»Hat man jemals versucht, das Nox zu erforschen?«
»Es gab einige Unentwegte, die es versuchten«, bestätigte Cedara nachdenklich, »aber keiner von ihnen ist je zurückgekehrt. Denn das Böse des Nox lässt jede sterbliche Kreatur den Verstand verlieren, sobald sie sich ihm nähert. Die Schöpfung will nicht, dass wir das Sanktuarion verlassen. So steht es geschrieben.«
Kalliope nickte. Sie schauderte in ihrem mit Lammfell gefütterten Mantel, gegen den sie ihren Umhang vor einigen Tagen getauscht hatte. Auch Cedara hatte warme Winterkleidung angelegt, die wie ihre Ordenstracht mit kunstvoll gestickten Borten versehen war.
»Versuche dein Innerstes dagegen zu schirmen«, riet die Gildemeisterin. »Die Nähe des Nox vermag selbst
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