Sprachlügen: Unworte und Neusprech von »Atomruine« bis »zeitnah« (German Edition)
Mindestlohn. Für den gibt es inzwischen diverse schönfärbende Umschreibungen, → Lohnuntergrenze etwa, oder → Niedriglohngrenze . Der Einstiegslohn gehört dabei zu den perfideren Euphemismen. Denn er möchte unterjubeln, dass die schlechte Bezahlung von Millionen von Menschen lediglich eine Art Anfangsgehalt sei, dass sie also durchaus auf eine Steigerung hoffen dürften, wenn sie denn nur hart genug arbeiteten. Doch es geht beim Einstiegslohn nicht um das Gehalt von Berufsanfängern. Es geht darum, per Gesetz festzulegen, dass Altenpfleger oder Friseure ein Mindestmaß an Geld für ihre Arbeit zu bekommen haben. Politisch müsste das eigentlich ein ehrenvolles Projekt sein, denn anschließend dürfte es einer Menge Menschen besser gehen. Trotzdem erfinden Politiker immer neue Wörter, um das Vorhaben nicht beim Namen zu nennen. Beziehungsweise Lobbyisten aus der Wirtschaft. Und Politiker plappern sie nach. Was viel darüber sagt, für wen sie Politik machen. Den Einstiegslohn übrigens hat sich die Initiative »Neue Soziale Marktwirtschaft« einfallen lassen, ein Lobbyverein, der nur vorgibt, sozial zu sein. Schließlich gibt er sich alle Mühe, den Abbau sozialer Errungenschaften zu fordern und zu verteidigen.
Einzelfälle, bedauerliche
Der Plural ist tückisch, er kann dazu führen, dass Wörter eine völlig neue Bedeutung bekommen, wie unter anderem die → parlamentarischen Zwänge zeigen, die eben keinen Zwang darstellen. Ein Einzelfall nun ist per definitionem ein singuläres Ereignis und sollte damit auch als Wort bevorzugt im Singular auftreten. Trotzdem wird er von Politikern gern in den Plural gezwungen. Und zwar immer dann, wenn sie verschleiern wollen, dass ein Ereignis durchaus häufig, ja sogar regelmäßig eintritt und eben nicht einzigartig ist, wie die Einzelfälle suggerieren sollen. Wer zum Beispiel behauptet, Probleme bei der Stromerzeugung mithilfe von Uran seien bedauerliche Einzelfälle , der lügt. Die Technik ist so riskant und so schwer beherrschbar, dass Katastrophen dabei geradezu gesetzmäßig sind. Siehe auch → Brüter, schneller . Diese rhetorischen Abschwächungen auch noch mit dem Adjektiv »bedauerlich« zu ergänzen, entlarvt die Jämmerlichkeit des Unterfangens. Denn es impliziert, dass der Einzelfall zwar tragisch, aber gleichzeitig unvermeidlich war, damit also wahrscheinlich eine systemische Ursache hat. Und es legt nahe, dass der Betreffende sich leider nicht in der Lage sieht, diesen Fehler im System zu beheben. Obwohl es als → Entscheider im Zweifel seine Aufgabe wäre.
(Rundfunk-) Empfangsgerät, neuartiges
Hilflose Umschreibung für Computer mit Internetanschluss oder für »internetfähige« Mobiltelefone. Neuartig ist an beiden gar nichts. Es sei denn, man befindet sich geistig auf dem Stand der neunzehnhundertfünfziger Jahre und hält alles, was keine Elektronenröhren braucht, für Teufelszeug; beziehungsweise versucht, mit den Instrumenten jener Zeit, wie der bald → Rundfunkservicezentrale genannten GEZ, moderne Kommunikationskanäle zu erfassen und sich dadurch neue Pfründe zu sichern. Wie gut oder eher schlecht das funktioniert, zeigt der verkrampfte Definitionsversuch: Denn Rundfunk empfangen solche Geräte in der Regel gar nicht, sie tauschen vielmehr in einem Netzwerk Daten aus. In diesem Netzwerk ist jeder Empfänger gleichzeitig auch ein Sender, was die Sache nicht leichter macht. Denn nur weil inzwischen auch öffentlich-rechtliche Medien Teil dieses Netzes sind, werden noch lange nicht jeder Computer und jedes Telefon zu einem Empfangsgerät , aber das ist den Erfindern der Definition egal. Theoretisch wären sie zum Empfang in der Lage, das genügt. So etwas kann man machen, es wirkt aber wie Abzocke. Vielleicht um diesen Eindruck zu vermeiden, wird das ganze System geändert. Weg von Endgerät und Rundfunkgebühr, hin zum → Endkunden und zum Rundfunkbeitrag. Der damit freiwilliger klingt, als er ist. Aber das ist eine andere Geschichte.
Endkunde
Auch Endverbraucher oder Endnutzer genannt. Soll diejenigen, die ein Produkt erwerben, um es dann auch tatsächlich zu verwenden, von denen unterscheiden, die es gleich weiterverkaufen. Allerdings gab es diese Trennung schon, als der Endkunde noch ein schlichter Kunde war. Damals hießen alle anderen eben Händler. Das Gerede vom Endkunden ist nicht nur sprachliche Prahlerei. Es spiegelt sich darin auch eine Haltung wider, indem das semantisch eigentlich überflüssige
Weitere Kostenlose Bücher