Sprachlügen: Unworte und Neusprech von »Atomruine« bis »zeitnah« (German Edition)
Demokratie ist eben keine mehr, sondern die Herrschaft eines Demagogen, also eines »Volkslenkers«. Im Zusammenhang mit Demagogie taucht der Begriff denn auch im Werk von Edward Bernays auf, der mit seinem Buch über Werbung namens »Propaganda« als Neusprech-Stammvater gelten kann. Er beschreibt darin, wie die öffentliche Meinung durch Sprache und geschickte Public Relations beeinflusst, also gelenkt werden kann. Wir wissen nicht, ob russische und andere Staatenlenker dieses Buch gelesen haben. Zumindest aber nutzen sie den Begriff. In Wladimir Putins Russland wird dabei nicht nur sprachlich gelenkt, sondern von der Exekutive auch ganz konkret in die politische Willensbildung eingegriffen. Und somit bewiesen, dass der Versuch, eine Demokratie zu lenken, beziehungsweise zu »verwalten«, wie das russische управляемая демократия übersetzt werden kann, der beste Weg in die Diktatur ist.
Denkverbote
Die Denkverbote sind so etwas wie der Präventivschlag der politischen Kommunikation. Zur Erhöhung der Geschossenergie werden sie nur in der Mehrzahl eingesetzt, es handelt sich also um ein Pluraletantum. Meist verwendet in der Konstruktion »darf man sich nicht auferlegen« und immer als Begründung unseriöser bis gefährlicher Forderungen, beispielsweise nach → gezielten Tötungen . In dem Wissen, soeben etwas Provozierendes oder gar grob Fahrlässiges gesagt zu haben, werden die sich folgerichtig einstellenden Kritiker prophylaktisch mit der Unterstellung angegriffen, sie wollten dem Provokateur das Denken verbieten. Das aber hat niemand vor. Getreu dem Hoffmann von Fallersleben’schen Volkslied gilt uneingeschränkt: »Kein Mensch kann sie wissen / kein Jäger erschießen / mit Pulver und Blei: / Die Gedanken sind frei!« Ums Denken geht es auch gar nicht, sondern darum, dass nicht jeder Gedanke auch unbedingt öffentlich geäußert werden sollte. Wer sich in der Öffentlichkeit bewegt, hat eine Verantwortung für eben das, was er sagt. Denn Worte können zu schlimmen Taten anstacheln. Deswegen ist es zwar durchaus erlaubt, über das Erschießen von Menschen ohne Prozess und Urteil nachzudenken. Das politische Schwadronieren darüber aber gilt zu Recht bereits als ungehörig. Vgl. auch: »Das wird man ja wohl noch sagen dürfen.« Dürfen vielleicht, man sollte es aber nicht.
depublizieren
Verschämte Umschreibung der Tatsache, dass öffentlich-rechtliche Sender durch den Rundfunkstaatsvertrag gesetzlich gezwungen sind, Inhalte nach kurzer Zeit wieder aus ihrem Internetangebot verschwinden zu lassen. Zum Verständnis: Es handelt sich dabei um Texte, Bilder und Filme, die die öffentlich-rechtlichen Sender in Erfüllung ihres gesetzlichen Bildungsauftrages mit viel Geld produziert haben. Trotzdem müssen sie der Öffentlichkeit im Zweifel schon nach wenigen Tagen wieder weggenommen werden, damit private Anbieter ihre möglicherweise gar qualitativ schlechteren Texte und Filme besser verkaufen können. Wie verquer diese Idee ist, zeigt sich bereits an der Wortschöpfung. Zwar gibt es mit dem Privaten und dem Geheimen einen Gegensatz zur öffentlichen Sphäre. Wir kennen allerdings keine sprachliche Möglichkeit, Dinge, die einmal der Allgemeinheit bekannt geworden sind, wieder zu tilgen. Genau aus diesem Grund gibt es die sogenannte Gegendarstellung: Da etwas nicht ungelesen und ungesehen gemacht werden kann, soll auch die Gegenposition Aufmerksamkeit bekommen. Ein »entöffentlichen« war bislang im Deutschen nicht vorgesehen. Trotzdem wird es mit dem Depublizieren nun eingeführt. Die Neuprägung suggeriert vor allem, dass die mit den Gebühren aller finanzierte Information und Bildung der Bürger offensichtlich nur ein vorübergehend geduldetes Übel ist. Dabei könnte das Depublizieren gar als Diebstahl an der Gesellschaft begriffen werden. Immerhin hat die Gesellschaft für die Inhalte bezahlt, also sollte sie sie auch nutzen dürfen.
differenziert (betrachten)
Die Psychologie kennt zwei Wege, um von jemandem etwas zu erfahren. Einerseits offene Fragen, die als Antwort lange Sätze und ausführliche Erläuterungen erlauben. Andererseits geschlossene Fragen, die nur kurze, eindeutige Antworten zulassen und meist erzwingen, sich auf Aussagen wie Ja oder Nein festzulegen. Politiker ziehen eindeutig die offenen Fragen vor und meiden die geschlossenen. Denn wer sich festlegt, läuft Gefahr, später an seinen Aussagen gemessen zu werden. Außerdem bekommt er mit einem kurzen Nein
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