Sprachlügen: Unworte und Neusprech von »Atomruine« bis »zeitnah« (German Edition)
weniger Redezeit und damit weniger Aufmerksamkeit. Als Fluchtstrategie aus diesem Dilemma entwickelten findige Volksvertreter daher den beherzten Aufruf, die ihnen soeben gestellte Frage müsse man »unbedingt differenziert betrachten «. Das hat gleich mehrere Vorteile: Wer etwas differenziert betrachtet , erhebt sich über jene, die das Problem eben nicht so differenziert sehen. Er gibt sich damit den Anschein eines → Experten . Außerdem deutet er an, dass eine kurze Antwort der Komplexität des Problems nicht gerecht wird, dass es also notwendig ist, ganz viel darüber zu sagen. Das lässt den Sprecher wichtiger erscheinen und gleichzeitig seine langatmige und nichtssagende Antwort nicht so nichtssagend klingen. Eigentlich aber beweist der Ausdruck nur, dass der Sprecher der Sprache nicht wirklich mächtig ist. Denn Dinge zu differenzieren heißt, sie voneinander zu unterscheiden. So kann man zwar schwarz von weiß differenzieren, nicht aber die Farbe Schwarz differenziert betrachten . Die Floskel hat sich denn auch längst abgenutzt und deutet vor allem darauf hin, dass nach ihr ein beherztes »Vielleicht« folgt, beziehungsweise Geschwafel.
E
Eckpunkte
Aufgabe der Politik ist es, Lösungen für gesellschaftliche Probleme zu erarbeiten, um Staat und Gesellschaft weiterzuentwickeln. Das ist umso mühsamer, je komplexer die Probleme sind. Daher erfreut sich eine politische Handlung stets großer Beliebtheit: das Vorlegen von Eckpunkten . Die Eckpunkte treten dabei grundsätzlich im Plural auf, es handelt sich also um ein Pluraletantum, wie es sprachwissenschaftlich heißt. Möglicherweise, weil ein einzelner Punkt in einer Ecke albern aussähe. Wahrscheinlicher aber, weil die entsprechenden Dampfplauderer, wenn sie schon keinen detaillierten Plan zur Lösung eines Problems haben, wenigstens ein wenig Brimborium abliefern wollen. Denn nichts anderes sind die Eckpunkte : Minimalforderungen, die Handeln simulieren, die eigene Position jedoch höchstens skizzieren. So wie die Holzpflöcke, die auf einem sonst unberührten Stück Land anzeigen, welchen Grundriss das geplante Haus einmal haben wird, sollte es je fertig werden. Mit einem politischen Konzept haben die so gern zitierten Stichpunkte so viel gemein wie diese Holzpflöcke mit einem Bauplan. Denn die Eckpunkte verzichten grundsätzlich auf die notwendigen Details und versuchen, schwierige Fragen so uneindeutig wie möglich zu beantworten. Leider verstärken viele Medien dieses rudimentäre politische Handeln noch, indem sie ihrerseits nur rudimentär über die Ursachen der Probleme und die politischen und wirtschaftlichen Zusammenhänge berichten. Wer also lediglich Eckpunkte vorlegt statt eines politischen Bauplans, hat gute Chancen, damit durchzukommen und dabei auch noch gut auszusehen.
Eigentum, geistiges
Der Ausdruck kommt so plausibel daher, dabei ist er eine Propagandavokabel, die keinen Sinn hat und lediglich Assoziationen wecken soll. Denn die Idee des Eigentums funktioniert bei Ideen nicht, ja sie ist sogar kontraproduktiv. Ungenutztes Gold mag einen Wert darstellen, wenn es im Tresor liegt, weil es in diesem Moment niemand anderer haben kann, ungenutzte Ideen hingegen nicht. Ein anderer kann sie genauso haben beziehungsweise auf den gleichen Gedanken kommen, egal wie gut die Idee eingeschlossen ist. Wie Hoffmann von Fallersleben schon dichtete: »Die Gedanken sind frei.« Das ist der große Nachteil von Dingen, die sich nicht anfassen lassen. Zumindest aus Sicht derer, die trotzdem gern allein über sie herrschen und Profit aus ihnen schlagen wollen. Dabei ist diese »Gedankenfreiheit« eigentlich ein Vorteil. Denn wer eine Idee mit anderen teilt, der vervielfältigt sie zum Nutzen aller. Und je freier ihre Nutzung geregelt ist, desto mehr Menschen können davon profitieren. Genau darin liegt der Witz und der eigentliche Gewinn solcher nichtmateriellen Güter. Wer hingegen versucht, Ideen wie Eigentum einzusperren, beziehungsweise ihre Verbreitung zu verhindern, und allein darum geht es bei dem Begriff, der enthält damit der Gesellschaft etwas vor. Und er läuft im Zweifel Gefahr, eine Zensur zu installieren. Ein hoher Preis dafür, dass nur einer etwas davon hat.
Einstiegslohn
Ob es irgendwo in einem Bunker in der Eifel einen geheimen Wortplanungsrat gibt, der monatlich tagt, um sich neue Werbebegriffe für allzu frustrierende wirtschaftliche Zusammenhänge auszudenken? Manchmal könnte einem der Gedanke kommen. Zum Beispiel beim
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