Sprechen wir über Musik: Eine kleine Klassik-Kunde (German Edition)
Karajan bat also die Stimmführer zu sich und sagte: »Meine Herren, Sie müssen auf Schlag kommen, Sie sind immer etwas zu spät, das kann ich nicht leiden.« Als Karajan dann den Einsatz für die Schumann-Symphonie gab, kam wieder niemand auf Schlag. Da wurde mir klar, wie Tradition ein Orchester prägen kann!
Auch Karajans Sinn für die Technik war außergewöhnlich. In den letzten Jahren seines Lebens brachte er seine Musiker dazu, nicht nur zahlreiche Live-Aufnahmen zu machen, sondern auch Play-back in TV-Shows zu spielen. Heute ist das üblich, damals war das für die Berliner Philharmoniker, allesamt erstklassige Interpreten, eine Zumutung. Sie mussten »so tun als ob« sie spielten. Musik ohne Musik. Vermutlich haben sie ihm das unbewusst ein wenig verübelt. Dabei wurden sie für solche Auftritte sehr gut bezahlt, und gezwungen hat sie auch niemand. Aber Play-back zu musizieren, das ist eigentlich unter der Würde eines jeden Künstlers. Darum überzeugen diese Aufnahmen auch nicht wirklich, und vielleicht hängen manche der
heutigen Vorbehalte gegenüber Karajan damit zusammen, dass diese Einspielungen aus den letzten Jahren nicht wirklich gelangen.
Verrückterweise hatte er gewisse Schwierigkeiten mit einem Komponisten, dem er eigentlich ganz nahestand, nämlich mit Mozart. Beide stammten ja aus Salzburg. Mozart zu dirigieren hätte ihm gewissermaßen ein Leichtes sein müssen, aber sein Mozart wurde später doch etwas zu artifiziell. Allerdings, wie er als junger Mann in den 1950er Jahren Così fan tutte einspielte, wie er in den 1960er und 1970er Jahren mehrfach Gesamtaufnahmen von den Beethoven-Symphonien machte, wie er auch Bruckner, der gar nicht so sehr zu ihm passte, großartig, schön und in gewisser Weise schlank dirigierte, das war toll. Das hat keiner nach ihm geschafft.
Karajan war ein Pionier, ein Dirigent mit unglaublicher Energie. Legendär auch seine Auffassungsgabe. Ich fragte ihn einmal: »Angenommen, Sie sind in einem Opernhaus als Dirigent angestellt und der Generalmusikdirektor erkrankt plötzlich, Sie müssten also innerhalb einer Woche Fidelio, Tosca, Die Entführung aus dem Serail und eine Wagner-Oper dirigieren. Wie lange bräuchten Sie zur Vorbereitung?« Karajan antwortete: »Das kostet mich vielleicht eine Stunde, dann kann ich alle diese Opern perfekt.« Klingt sehr selbstbewusst, aber er hatte keinen Grund, mich zu bemogeln, dazu war er viel zu berühmt. Er verfügte über ein einmaliges Fachwissen. Und er war
ein großer Entdecker. Einmal wurde er vom Bratschisten seines Orchesters, als er noch in Aachen Generalmusikdirektor war, zu einem Hauskonzert eingeladen. Es hieß, da würde auch die Gattin dieses Bratschisten singen. Ich kann mir lebhaft vorstellen, was sich Karajan dachte. Ich bin gewiss kein Karajan, aber ich werde auch oft zu solchen Konzerten eingeladen, bei denen ich mir vorher denke: Gebe Gott, dass ein gnädiger Schnupfen mich davon freihält. Karajan wurde nicht freigehalten, er ging hin, ließ das alles über sich ergehen. Und als die junge Frau des Bratschisten sang, horchte er plötzlich auf und sagte: »Nanu, die singt aber ausgezeichnet, aus der möchte ich etwas machen.« Er ermöglichte ihr ein Debüt – und dann wurde sie die wunderbare Sopranistin Elisabeth Grümmer.
Auch Hildegard Behrens hat er entdeckt, und natürlich Anne-Sophie Mutter. Ihre einzigartige Karriere begann, als sie 1977 – im Alter von 13 Jahren! – bei den Salzburger Pfingstkonzerten mit Mozarts G-Dur-Konzert unter Herbert von Karajan debütierte. Rückblickend sagte sie über ihr Verhältnis zu ihm: »Er hat mich einerseits sehr geschützt, andererseits auch unter einen enormen Erwartungsdruck gesetzt. Aber der Moment auf der Bühne war einfach so magisch, dass ich begierig war, weiterzulernen. Das belohnte mich für all die Phasen der Selbstzweifel und die Proben und noch mehr Selbstzweifel.«
Er strahlte eine unglaubliche Faszination auf andere Menschen aus, übrigens nicht nur auf solche, die mit ihm musizierten. Anfang der 1960er Jahre konnte ich das einmal in Paris hautnah erleben. Man hatte mich eingeladen, um mit Karajan ein Gruppeninterview zu führen. Am Abend lauschte ich seinem Konzert, hinter mir saß so ein schwarzes Gespenst, kaum zu erkennen. Auf dem Programm standen Sibelius, Ravel und Debussy. Als Zugabe gab Karajan Wagners Meistersinger -Ouvertüre, und zwar mit dem größten Schwung. Die Franzosen, bekanntermaßen wahnsinnige Wagnerianer,
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