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Sprechen wir über Musik: Eine kleine Klassik-Kunde (German Edition)

Sprechen wir über Musik: Eine kleine Klassik-Kunde (German Edition)

Titel: Sprechen wir über Musik: Eine kleine Klassik-Kunde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Kaiser
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poetisch und psychologisch vielschichtig konzipiert und ausgeführt, dass man sogar – wer hätte das gedacht? – eine erotische Qualität der Mutterliebe entdeckt. Und was gibt es Schöneres und Tieferes in der Operngeschichte als Wotans Verhältnis zu Siegfried?!
     
    Dass so viele Leute eine Abneigung gegen Wagners Libretti hegen (und zwar nicht erst, seit viele Opernhäuser die Worte der gesungenen Partien oberhalb des Bühnenrandes mitlaufen lassen), hängt mit dem Stabreim zusammen. Wagner wollte nicht einen reduzierten, man könnte vielleicht auch sagen: kümmerlich realistischen Text verfassen, wie er es von einigen Konversationsstücken im Sprechtheater kannte. Er wollte dem Text eine Form geben, allerdings ohne Verse, weil dadurch Betonungen vorbestimmt werden. Reime fangen sehr leicht an zu klappern. Das lehnte er
ab. Er entschied sich stattdessen für den Stabreim, also das Wiederholen einzelner Buchstaben beziehungsweise Laute am Anfang der Worte. So erreichte er einerseits eine Stilisierung, andererseits legt der Stabreim keine Betonungen fest.
    »Wagalaweia«, singen etwa die Rheintöchter im Rheingold. Zugegeben, das mag, zumal für heutige Ohren, seltsam klingen. Trotzdem begreife ich nicht, warum sich gerade darüber alle mokieren. Rheintöchter sind keine Germanistikstudentinnen. Lasst diese jungen Damen doch ein bisschen dummes Zeug reden in ihrer Vergnügtheit! Den Vorwurf, Wagners Texte seien allesamt banal, schwülstig und unzeitgemäß, kann ich nicht nachvollziehen. Banal sind Tristan und Isolde oder Parsifal wirklich nicht. Schwülstig sind sie vielleicht ein wenig, aber nur, weil man heutzutage oft Schwulst mit Pathos verwechselt. Die Texte trauen sich, pathetisch zu sein. Na und? Das Wort »cool« wurde sicherlich nicht für Wagners Opernwelten erfunden. Und den Begriff »unzeitgemäß« halte ich seit jeher für eine unglückliche Wortschöpfung. Träfe der Begriff zu, wären Dantes Göttliche Komödie und Shakespeares König Lear mindestens ebenso unzeitgemäß wie Wagners Ring des Nibelungen oder die Meistersinger.
    Aber all das aus dem Repertoire zu verbannen, nur weil es nicht ganz »gegenwärtig« ist, zeugt von einem Mangel an historischem Bewusstsein. Es wäre ein kolossaler Verlust, nicht nur an Kultur, sondern auch an Humanität.

Musik aus zweiter Hand
    Warum traut sich heute niemand mehr,
im romantischen Stil zu komponieren?
     
    Welcher empfindsame Zeitgenosse würde ernsthaft Einwände gegen romantische Musik erheben? Sie gefällt uns allen sehr. Gustav Mahler war ja ein spätromantischer Komponist. Auch Arnold Schönberg war, zumindest am Anfang seines Schaffens, ein Spätromantiker. Das hat er in seinem Streichsextett Verklärte Nacht oder in den groß orchestrierten Gurreliedern eindrucksvoll demonstriert.
    Die Schwierigkeit liegt nun darin, dass man sich nicht einfach so entscheiden kann, in einem romantischen Stil zu komponieren. Die Nachfolger von Schubert, Schumann und Chopin können sich höchstens entschließen, deren Idiom fortzuschreiben. Solche Eklektiker gab es immer wieder. Zum Beispiel hat Alexander Skrjabin am Anfang seines Lebens sehr Chopin-nah komponiert. Aber Schumanns Sehnsucht, Schuberts Weltgefühl oder Chopins Klavierstil fünfzig oder hundert Jahre später übernehmen und imitieren zu wollen – das funktioniert nicht. Das wirkt blässlich, nicht authentisch. Man müsste sich schon zu einer ganz neuen Romantik entschließen – aber das ist sehr schwer.
     
    Sollten Komponisten deshalb, wenn sie sich der Romantik verbunden fühlen, Filmmusik komponieren? Ist
Hollywood heute der einzige Ort, wo ein Orchester gefühlvolle, schöne Musik spielt, während anderswo solche Musik als kitschig angesehen wird? Nein. Selbst gute Filmmusiken, die sicherlich existieren, können sich nicht vergleichen mit dem Ethos von Schumanns Klavierkonzert oder mit der Fülle von Chopins Préludes.
    Gleichwohl räume ich ein, dass mich der russische Komponist Nikolaj Medtner (1880–1951) ein wenig zweifeln lässt an meiner eigenen Auffassung. Medtner beherrscht verschiedene Stile und ist ein ausgesprochen einfallsreicher, fabelhafter Komponist. Es haben immerhin die Pianisten Severin von Eckardstein oder Boris Beresowski CDs ausschließlich mit Medtners Werken herausgebracht. Medtner selbst war gegenüber der Moderne höchst skeptisch. Richard Strauss hielt er für einen Scharlatan, Igor Strawinsky tat er als Dickkopf ab, und Sergej Prokofjew wollte er kein Talent

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