Sprechen wir über Musik: Eine kleine Klassik-Kunde (German Edition)
zugestehen, geschweige denn Genie. Seine Musik aber höre ich gerne, auch wenn es Musik aus zweiter Hand ist, aus schöner zweiter Hand. Jemand, der nicht eine eigene Sprache im Geiste seiner Zeit zu entwickeln versteht, wird nie ein großer Komponist. Aber so interessant und liebenswert wie Medtner kann er schon sein.
Schön, schöner, Ludwig
Welche Aufnahme der »Winterreise« ragt aus
dem riesigen CD-Angebot heraus?
Hörenswert und herzbewegend ist die Einspielung mit dem leider jüngst verstorbenen Dietrich Fischer-Dieskau. In den 1950er und 1960er Jahren, als seine Stimme noch relativ frisch und weich war, galt er als der erste Liedersänger der Welt. Völlig zu Recht. Wie er den Zyklus von Franz Schubert sang und all die Stimmungen zwischen Freude und Verzweiflung nuancierte – das ist bis heute unübertroffen.
Gleichermaßen begeistert bin ich nach wie vor von der Einspielung mit Christa Ludwig. Sie besitzt die schönste Stimme, der ich je begegnet bin. Ich halte sie – und ich neige normalerweise nicht zu Superlativen – für die bedeutendste Adagio-Sängerin weltweit. Nun ist die Winterreise, dieser romantische Reigen für Singstimme und Klavier, ja eigentlich ein Männerzyklus. Die Texte, geschrieben von Wilhelm Müller, versammeln Szenen eines jungen Wanderers, der, getrieben von Liebeskummer, sein Zuhause verlässt und dann allerlei Widrigkeiten erlebt, von einer Depression in die andere taumelt. Manch einer mag es deshalb seltsam finden, wenn die Erlebnisse eines jungen Mannes von einer Frau gesungen werden.
Solche Rollenüberlegungen greifen aber zu kurz. Denn Schuberts Zyklus mit seinen 24 Liedern ist große Kunst. Christa Ludwig schafft es, den Inhalt dieser
schauerlich-schönen Lieder, die Franz Schubert ein Jahr vor seinem Tod vollendete, zart und lyrisch in einen Seeleninnenraum zu überführen. An einer Stelle der Winterreise heißt es beispielsweise: »Nun ist die Welt so trübe, der Weg gehüllt in Schnee.« Christa Ludwig lädt das Wort »Schnee« mit einem Entsetzen auf, das ich so noch nie gespürt habe – als sei dieser kalte Schnee, der dem Winterreisenden das Dasein so beschwerlich macht, ein endloses, fürchterliches Grauen.
Eine kleine Nörgelei kann ich mir allerdings auch bei dieser grandiosen Aufnahme nicht verkneifen: Das Lied Die Post gestaltet die Ludwig für meinen Geschmack zu langsam. Aber das ist kein Grund, gleich zu einer anderen Aufnahme zu greifen. An der Winterreise haben sich die Interpreten ja dutzendfach versucht, auch eine Orchesterbearbeitung und eine Verfilmung kann man im Fachhandel erwerben. Die darf man aber getrost im Regal liegen lassen.
Mittelmaß im Meisterwerk
Kann es sein, dass im zweiten Akt
von Wagners Oper Tristan und Isolde
der Monolog des Königs Marke etwas
langatmig daherkommt?
Ja, auch ich werde im zweiten Akt von Tristan und Isolde immer ein wenig ungeduldig. Dabei startet der von Isoldes wildem Zorn dominierte erste Akt hochdramatisch, mit Zaubertrank, Verwirrung und Ekstase: unschlagbare neunzig Minuten! Spielfilmformat, Breitwand!
Der zweite Akt beginnt mit einem rasenden Vorspiel, fast die musikalische Metapher für einen Orgasmus. Es folgt die magisch verklärte Liebesnacht mit wechselndem Gesang: »So stürben wir, um ungetrennt ewig einig ohne End.« Dann, im Überschwang der Gefühle, werden die beiden ertappt. Tristan bedeckt die von Scham ergriffene Isolde mit seinem Mantel und singt: »Der öde Tag zum letzten Mal.«
Daraufhin ergreift König Marke das Wort. Ausführlich. Er tut einem ja fast leid, und er hat überaus recht, wenn er jammert: »Wohin nun, Treue, da Tristan mich betrog?« Oder: »Die kein Himmel erlöst, warum mir diese Hölle?« In jeder normalen Oper würden diese königlichen Monologe den Zuschauer mitreißen und aufwühlen. Hier aber, zugleich begeistert und erschöpft von der vorangegangenen theatralischen Sinnlichkeit, denkt man nun doch ein wenig überdrüssig:
Was will der Mann? Die Sache ist doch sonnenklar! Einerseits auf frischer Tat ertappte Sünder, andererseits das Schicksal eines müden Königs, der die Gattin nie berührte. Da kann in der Tat eine gewisse Langeweile entstehen, vielleicht aber auch ein gewisses Lächeln: ein liebenswerter, hilfloser Mann, dessen Tragik darin liegt, dass er von Tristans Treuebruch zunächst enttäuscht ist und auch vor der Öffentlichkeit als blamiert dasteht. Enttäuschte Liebe steht bei Marke aber sicher nicht im Mittelpunkt. Er hat Isolde
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