Sprechen wir über Musik: Eine kleine Klassik-Kunde (German Edition)
mit unbeschwerten, verspielten ab. Viele Gegensätze ergeben hier ein wunderbares Ganzes.
Ähnlich verhält es sich bei Bach, auch der Kosmos innerhalb seiner Goldberg-Variationen weitet sich ungeheuerlich aus. Es gibt eine Variation, die fünfundzwanzigste in g-Moll, die – etwa von Claudio Arrau oder vom jungen Glenn Gould gespielt – bis zu sieben oder acht Minuten dauert. Eine einzige Variation von insgesamt dreißig!
Kein Zweifel also, es handelt sich bei beiden Zyklen um gewaltige Werke. Ob man sie in den Worten Hans von Bülows nun als Testamente bezeichnen möchte, sei dahingestellt. Es ist nur eine Metapher für ihre Größe, ihre Bedeutung, ihren Reichtum, und das ist den Werken unbenommen. Doch ich möchte an dieser Stelle auch ein paar andere, ebenfalls herausragende Variationszyklen erwähnen: Etwa die Sinfonischen Etüden von Schumann, die im Grunde wunderbare und höchst anspruchsvolle Variationen für Klavier sind, so komplex, als seien sie für ein Orchester komponiert; oder die Bach-Variationen von Max Reger; in gewisser Weise auch die zweite Suitensammlung von Georg Friedrich Händel, auf die wiederum Bach in seinen Goldberg-Variationen Bezug genommen hat.
Mozart und der King of Swing
Kann es sein, dass das Adagio aus
dem Klarinettenkonzert in A-Dur das
Wunderbarste ist, was Mozart je
komponiert hat?
Nun, dieses Mozart-Adagio (KV 622) stellt wirklich eine Ausnahme, wenn nicht gar ein Wunder dar. Das Thema, das die Klarinette spielt (und dessen erste Takte übrigens vorne auf dem Buchcover abgedruckt sind), steigt zunächst bis zum Intervall einer Sext aufwärts. Bei der Wiederholung wird aus der Sext eine volle, schöne Oktave, die ein bisschen melancholisch und trotzdem nicht sentimental klingt. Danach wiederholt das Orchester diese acht Takte, und darauf folgt ein großartiger, herrlicher Abgesang.
Die Musik ist nicht nur – wie immer bei Mozart – ausgesprochen schön, elegant und zart. Sie hat auch etwas Stattliches, großartig Getragenes, und das ist bei diesem Komponisten tatsächlich eher selten. Das Adagio-Thema aus dem Klarinettenkonzert, Mozart vollendete es kurz vor seinem Tod, haben unter anderem Sabine Meyer und Benny Goodman interpretiert. Sabine Meyer ist ja eine fabelhafte Klarinettistin. Karajan hat unendlich für sie geschwärmt und sich
ihretwillen sogar mit den Berliner Philharmonikern verkracht. Der Amerikaner Benny Goodman war einer der berühmtesten Jazzmusiker, man nannte ihn den »King of Swing«; dass er nebenher Kammermusik gemacht hat, wissen die meisten gar nicht. Er spielte diesen getragenen Adagio-Satz im Ton expressiver, romantischer, zugleich auch langsamer und majestätischer als Sabine Meyer. Erstaunlich, was Benny Goodman an Fülle und Wärme aus Mozarts Thema herausholte, das zugleich Sehnsucht und Erfüllung ausdrückt.
Merkwürdigerweise sind nicht Romantiker wie Robert Schumann oder der von mir so geschätzte Chopin die größten Adagio-Komponisten, vielleicht waren sie dazu zu schwärmerisch. Wer tiefsinnige, schöne, in die Seele gehende Adagios schreiben will, muss auch ein kühler Konstrukteur sein. So wie Haydn und Beethoven es waren, Brahms und Bruckner. Und eben auch Mozart.
Atemholen der Seele
Wie viel Stille braucht die klassische Musik,
und haben Pausen eine Farbe?
Scheinbar einfache Fragen, zu denen mir aber leider nur Kompliziertes einfällt. Ich bitte vorab um Nachsicht.
Es gibt, was die Musik betrifft, zwei Arten von Stille: Einmal die Stille, die um die Musik herum am Anfang und am Ende sein muss – zur Einbettung. Daneben jene Stille, die die Musik aus sich heraus erzeugt. Selbst unter geübten Konzertgängern wird ja gerne vergessen, dass Musik, wenn sie verklungen ist, erst einmal ausatmen muss. Nach schnellen, lustigen Sätzen sind – so meine Beobachtung – die Künstler eher bereit, die Publikums-Angewohnheit des sofortigen Klatschens hinzunehmen. Nur nach langsamen Sätzen schalten die Zuschauer meist in den Ergriffenheits-Modus. Streng genommen müssten im Rundfunk und Fernsehen nach Beendigung einer großen Symphonie mindestens zwei, drei Minuten absolute Stille herrschen. Stattdessen kann man immer wieder den Horror Vacui erleben: Eine Klassik-Sendung geht zu Ende, und sofort beginnt eine neue Sendung, verbunden mit einem ohrenbetäubenden Werbetrailer. Als ob die Leute aufgescheucht und gezwungen werden sollten, an den Apparat zu stürzen und ihn auszuschalten.
Manchmal werden die
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