Sprengkraft
Motorrad von der Straße abgekommen und gegen einen Baum geprallt.«
»Mit hundertzwanzig Sachen, zumindest laut Tacho ihrer Harley«, ergänzte der Kommissar aus Krefeld, dessen Namen Moritz nicht behalten hatte.
»Wann ist es passiert?«
Fast zärtlich berührte der Weißkittel die Wange der Leiche. »Die Totenflecken haben sich schon zum Auffindezeitpunkt nicht mehr wegdrücken lassen. Also ist sie dort mindestens sechsunddreißig Stunden gelegen. Dienstagnachmittag oder -abend, würde ich schätzen.«
Der Kripomann aus Krefeld fragte: »Könnte es Gründe für einen Suizid gegeben haben?«
»Unmöglich!«, erwiderte Moritz
»Es gibt keine Bremsspur auf dem Straßenbelag. Sie war betrunken, etwa eins Komma zwei Promille, und außerdem hatte sie im Blut Methyl…« Hilfe suchend blickte er den Rechtsmediziner an.
»Methylphenidat«, half der Weißkittel aus, »besser bekannt unter dem Handelsnamen Ritalin.«
»Ritalin?«, wiederholte Moritz ungläubig. »Das Zeug, das man zappeligen Kindern gibt, damit sie in der Schule besser aufpassen?«
»Es gibt auch Erwachsene, die es einnehmen. Als Appetitzügler zum Beispiel. In hoher Dosierung wirkt es antriebssteigernd oder euphorisierend. Ein Aufputschmittel wie Amphetamin, nur legal und ohne die hässlichen Nebenwirkungen. Aber dafür müsste man schon sehr viele Pillen schlucken.«
»Und das hat sie getan?«
»Schwer zu bestimmen, da ich den Zeitpunkt der Einnahme nicht kenne.«
»Also ein Unfall unter Einfluss von Alkohol und Medikamenten oder Selbstmord«, fasste der Krefelder Kommissar zusammen.
Moritz gefiel beides nicht. Dass Carola getrunken hatte, ließ sie posthum als labile Person dastehen, nicht als Heldin der Nation.
»Vergessen Sie nicht die Morddrohungen«, sagte er. »Vielleicht ist Frau Ott vergiftet worden. Kann doch sein, oder?«
»Mit Alkohol und Ritalin«, bemerkte Kommissarin Rossberg spöttisch. »Und dann hat man sie auf ihr Motorrad gesetzt und gegen den Baum geschoben. Nein, wirklich, Herr Lemke! Einen Märtyrertod geben die Fakten nie und nimmer her.«
Der Rechtsmediziner schob die Rollbahre in den Kühlraum zurück.
Märtyrertod – vielleicht kann ich doch etwas deichseln, dachte Moritz.
49.
Am mangelnden Charme hat es nicht gelegen, dachte Veller voller Frust, als er die Rückfahrt antrat. Die Generalbundesanwältin, eine Frau in den Sechzigern mit glattem, blondem Haar und festem Händedruck, hatte leider nicht den Eindruck gemacht, dass sie das NRW-Landesamt für Verfassungsschutz unter Druck setzen wollte.
Dabei galt die oberste Strafverfolgerin der Republik als Hardlinerin. Im vorletzten Jahr hatte sie den Big-Brother-Award verliehen bekommen, eine Schmähauszeichnung für Eingriffe in Persönlichkeitsrechte des Einzelnen – während des Weltwirtschaftsgipfels in Heiligendamm hatte sie Privatpost von Gipfelgegnern öffnen und Körpergeruchsproben von Demonstranten archivieren lassen. Die Preisstatue, eine abstrakte Steinfigur, stand auf ihrem Schreibtisch und sichtlich war die Dame stolz darauf. Doch wenn es um Regierungsstellen ging, zeigte sie sich weniger hart.
»Glauben Sie etwa, ein deutscher Geheimdienst würde Terroristen mit Sprengstoff versorgen?«, hatte sie gefragt, als hätte es in der Achtundsechzigerzeit keinen Bommi Baumann gegeben und kein Celler Loch während der Jagd auf die RAF. Ob er denn nicht die gewichtigen Argumente kenne, warum die Verfassungsschützer auf Geheimhaltung bestünden?
Natürlich. Es waren immer dieselben. Zum Teufel mit dem Geheimscheiß.
Der Zug ratterte nordwärts. Die unschöne Rückseite einer Kleinstadt, Böschungen und Lärmschutzmauern.
Veller zückte sein Handy, rief Dombrowski an und fragte nach Neuigkeiten.
»Bei Orica in Troisdorf wird kein Sprengstoff vermisst«, sagte der Aktenführer.
»Wir brauchen die Liste aller Kunden von Orica.«
»Liegt bereits vor. Soweit sie in der Region ansässig sind, habe ich auch schon Leute hingeschickt.«
»Sehr gut.«
»Wie war’s bei der Generalbundesanwältin?«
»Sie will mit Berlin Rücksprache halten.«
»Und was heißt das?«
»So kurz vor den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen wird sich die Kanzlerin sicher nicht gegen ihre Parteifreunde in der Landesregierung stellen.«
Mit quietschenden Rädern erreichte der Zug den Bahnhof von Mannheim. Neue Passagiere drängten in den Großraumwagen. Ein junger Typ mit wildem Vollbart setzte sich auf den freien Platz neben Veller. Er trug
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