Sprengkraft
Tatortvermesser hatten Beamer und Leinwand aufgebaut. Die Projektion bestand aus einer Wolke von Messpunkten und wirkte verblüffend dreidimensional. Der Tatort: Per Mausklick konnten die Techniker ihn drehen und heranzoomen, sodass es Anna vorkam, als fliege sie über das Gelände. Ein weiterer Klick – jetzt erkannte sie den Hinterhof gleichsam aus dem Blickwinkel einer subjektiven Kamera, die sich auf den Anbau zubewegte, hineinglitt und sich am Ort der Explosion umsah.
Der Kollege zeigte den Keller und den Punkt der tiefsten Deckenabsenkung. Schließlich den Grundriss des darüberliegenden Zimmers, das Abderrafi Diouri als provisorische Bleibe gedient hatte – ein Kreuz bezeichnete die Stelle, an der sich die Bombe befunden haben musste.
Seine Partnerin kommentierte: »Ein Zeuge, der im Moscheeverein aktiv ist, hat das Mobiliar beschrieben. Dazu gehört auch ein Couchtisch mit Granitplatte. Von diesem Tisch gibt es nur noch das Messinggestell. Ihr seht es hier, unmittelbar neben dem Kreuz. Die Platte wurde komplett zu Staub pulverisiert.«
Anna erkannte verbogene Tischbeine, ein paar Zeitungen, daneben Trümmer eines Schranks und die Leichen. Ihre Kleidung war bis auf Reste um die Hüften verschwunden – weggeblasen.
Klaus Bisping sagte: »Nach Schwarzpulver oder ähnlichem Kram braucht das Labor erst gar nicht zu suchen. Wir haben es mit einem brisanten Sprengstoff in nicht geringer Menge zu tun, wie das Ausmaß der Verwüstung im Nahbereich zeigt. Welcher Stoff es genau und wie der Zünder beschaffen war, wird hoffentlich die Analyse der Rückstände zeigen. Detonationsdruck und Splitterwirkung haben die Wand aus Rigipsplatten und Ständerwerk zerfetzt, die den Raum zum Gang und zur Toilette hin abgrenzte. Ich will der Obduktion nicht vorgreifen, aber eigentlich hatte keiner in dem Gästezimmer eine realistische Chance. Es wäre ein Wunder, wenn der Dritte überlebt.«
»Weitere Aufschlüsse kann uns hoffentlich eine Überwachungskamera geben«, ergänzte Thilo. »Der Moscheeverein hat erst kürzlich ein solches Ding im Nahbereich der Eingangstür angebracht, um mögliche Attentäter abzuschrecken.«
»Hat leider nichts geholfen«, ließ sich jemand vernehmen.
Der Kollege am Laptop ließ ein letztes Mal die Wolke der Messpunkte kreisen, bis die fiktive Kamera den Standpunkt des Explosionsherdes einnahm und durch das Fenster des Anbaus lugte. Der Hof, die Sechzigerjahrefassade des Vorderhauses, die zerborstenen Scheiben.
»Wie weit können die Splitter geflogen sein?«, fragte Thilo. »Habt ihr schon in der Dachrinne nachgesehen?«
»Eins nach dem anderen«, antwortete Bisping. »Erst sind die Zimmer zur Hofseite dran, bevor die Bewohner dort alles sauber machen. Und natürlich das Explosionszentrum selbst. Haben wir jetzt endlich Helme?«
Zander schlich herein und gesellte sich zu Anna. Auf seiner rechten Gesichtshälfte klebte ein dicker Verband, fixiert mit Leukoplast. »Wie macht sich mein Schönheitspflästerchen?«, fragte er leise.
Anna zog einen Stuhl für ihn heran, doch der Padre winkte ab. Sie reichte ihm die Liste, damit er sich eintrug wie alle anderen. Name, Dienststelle, Handynummer.
Zander neigte sich zu ihrem Ohr: »Habt ihr das Heroin gefunden?«
»Nein«, flüsterte sie zurück. »Wir konnten drinnen noch nicht viel machen und der Drogenspürhund wird nicht vor neun Uhr da sein.«
Die Stimme des MK-Leiters tönte durch den Raum: »Hallo, Martin, wie geht’s dir?«
Ein wenig verlegen berührte der Angesprochene seine Wange. »Nur ein Kratzer. Es war kein Schrapnell, sondern nur ein Stück von …«, Zander räusperte sich, »… von einem Unterkiefer.«
Betretenes Schweigen.
»Übrigens«, fuhr Zander fort, »der Typ, der überlebt hat, ist Rafi Diouri. Wir konnten seine Fingerabdrücke zuordnen. Und laut seinen Eltern war Yassin, einer der zwei Toten, ein Konvertit.«
Anna wusste, was der Kollege damit andeutete: Vom Konvertiten zum Attentäter war es nur ein kleiner Schritt. Zumindest legten das diverse Zeitungsberichte nahe. Allerdings sprengten Islamisten keine Moscheen in die Luft.
Kurz darauf war die Besprechung vorüber. Zander brachte Anna ungefragt einen Becher Kaffee und sagte: »Rate mal, mit wem dieser Yassin ebenfalls gut bekannt war?«
»Sag schon.«
»Mit unserem Noureddine. Alte Freunde aus Schulzeiten, heißt es.«
»Befragen können wir Yassin allerdings nicht mehr.«
»Aber Rafi wird durchkommen, oder nicht?«
»Ich weiß
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