Sprengkraft
Bisping legte die Stirn in Falten. »Die Explosion hat dem Zettel offenbar nichts angehabt.«
Anna stieg zu ihm hinüber und zog weiteres Material aus dem Dreck. Ebenfalls fast unversehrt: CDs, Seiten eines TV-Programmhefts auf Arabisch und ein Flugblatt, das in Gedichtform die Freuden des Märtyrertums feierte sowie die Verpflichtung der Muslime, in den Heiligen Krieg zu ziehen.
Tiefer unter den Trümmern gab es noch mehr von dieser Sorte. Anna betrachtete Ausdrucke von Internetseiten, teils auf Arabisch, das meiste auf Deutsch: eine Auflistung der Kreuzzüge und dessen, was der anonyme Verfasser dafür hielt, vom elften Jahrhundert bis zum jüngsten Einmarsch der Amerikaner und Briten im Irak. Berichte angeblicher Gräueltaten der Besatzer. Haarsträubende Hetze gegen westliche Demokratien, Juden und die USA, immer wieder untermauert mit Koranzitaten und Glaubenssätzen irgendwelcher Religionsgelehrten, die darlegten, warum Muslime und Ungläubige sich angeblich prinzipiell nicht vertrugen. Und so weiter.
Zuletzt hielt Anna Teile eines schmalen Faltblatts in der Hand. Sie fügte sie zusammen, blies den Staub vom Hochglanzpapier und erkannte das Kinoprogramm dieser Woche. Eine Zeichnung, die zwischen den Seiten gesteckt hatte, rutschte heraus und segelte zu Boden. Anna bückte sich danach.
Laienhaftes Gekritzel, blauer Kugelschreiber auf kariertem Papier. Anna drehte es auf den Kopf, dann noch einmal um neunzig Grad, bis sie begriff, was es darstellte.
Ihre Hände zitterten.
Grundrisszeichnungen: die drei Etagen des Kinocenters im Medienhafen – dorthin ging auch sie gelegentlich. Die Aufgänge. Die Säle. Drei davon waren mit Kreuzen markiert.
Anna verglich die Skizzen mit dem Kinoprogramm. In den gekennzeichneten Sälen würden ab Donnerstag Hollywoodproduktionen von Blockbuster-Qualität laufen. Volles Haus, zumindest am kommenden Wochenende.
Dafür war die Bombe also bestimmt gewesen.
Annas anfängliches Mitleid mit den Marokkanerjungs war verflogen.
Sie zog ihr Handy aus der Tasche, um dem Leiter der Mordkommission Bescheid zu geben. Der Fund würde Furore machen.
Deutschland hatte ein El-Kaida-Problem.
Anna spürte, wie ihr schlecht wurde. Sie brauchte dringend eine Pause.
29.
Es klopfte an seiner Bürotür. Norbert Still, der Lange mit dem Lupenblick, lugte herein.
»Ist Frau Ott schon da?«, fragte das Mitglied des Parteivorstands und schob sich ins Zimmer.
Moritz schüttelte den Kopf.
»Sie sehen müde aus, Lemke.«
»Haben Sie etwa geschlafen?«
Still entdeckte Gretchens Foto auf dem Schreibtisch. »Ihre Tochter?«
Moritz nickte.
»Aufgeweckt und intelligent, ganz der Vater. Wie alt?«
»Sechzehn.«
»Schwieriges Alter.«
»Sie lebt bei ihrer Mutter. Wir haben uns getrennt.«
Das Vorstandsmitglied nahm seine Brille ab, um sie zu putzen. Plötzlich wirkte sein Gesicht sensibel und verletzlich.»Kein schönes Kapitel. Ich kenne das sehr gut. Denken Sie auch manchmal daran, wie es anders hätte laufen können?«
Moritz nickte. »Immerzu.«
»Ist ein Scheißgefühl, wenn einem die Kontrolle über das eigene Kind entgleitet.«
Kontrolle – Moritz hätte es anders ausgedrückt, aber der Mann hatte verdammt recht.
Still legte sein Taschentuch zusammen, verstaute es in der Hosentasche und setzte die Brille wieder auf. »Wir dürfen trotzdem nicht schlappmachen. Gerade heute.«
»Sie haben also nicht vor, die Partei zu verlassen?«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Ich dachte, aus Rücksicht auf Ihre Beamtenstelle beim Verfassungsschutz.«
Das Telefon klingelte. Auf dem Display eine Duisburger Nummer.
Moritz entschuldigte sich bei Still und nahm das Gespräch an.
»Schon gehört, Herr Lemke?«, fragte Bucerius aufgeregt, fast hysterisch.
»Was denn?«
»Wissen Sie, was das bedeutet? Die Republik ist seit heute eine andere, Herr Lemke! Die Menschen kriegen Angst, es wird sein wie im Krieg. Wir gegen die anderen. Deutschland gegen die ausländischen Fanatiker, die das Leben der Bürger bedrohen. Der Traum vom Multikulti ist ausgeträumt, die Menschen werden nach Antworten verlangen. Und es werden unsere Antworten sein! Die Politik wird sich überschlagen, die Etablierten werden den Freiheitlichen nacheifern, aber wir werden glaubwürdiger sein als die anderen. Nach der Wahl wird Ministerpräsident Fahrenhorst auf Knien rutschen, damit die Freiheitlichen die Regierung mit ihm bilden, und unsere Partei wird die Bedingungen diktieren! Der Anschlag von
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