Sprengkraft
Händchenhalten mit der Kanzlerin.
Veller bekam das Wort und erläuterte seine Sicht des Falls. Zu seiner Enttäuschung brachte die anschließende Aussprache kein Ergebnis – Rafi, Said und Yassin schienen für sämtliche deutschen Geheimdienste unbeschriebene Blätter zu sein, auch die amerikanischen Freunde hatten nichts gemeldet.
Homegrown und autonom, dachte Veller. Die Vorstellung, dass junge Täter ganz von sich aus einen Terrorakt planten und durchführten, behagte ihm überhaupt nicht. Netzwerke ließen sich unterwandern. Internationale Banden fielen auf. Befehlsketten, deren Ursprung im Ausland lag, konnte man überwachen. Aber hausgemachte Terroristen schossen aus dem Boden wie Pilze nach einem Regenguss, plötzlich und unberechenbar. Wenn die Düsseldorfer Zelle weitere, bislang unbekannte Mitglieder hatte, musste man auf alles gefasst sein.
Wer zum Teufel war Michael Winner?
Veller sagte: »Unter den Kontaktpersonen unserer Zelle gibt es eine Person, auf die ich besonders hinweisen möchte.« Er gab weiter, was er von Dombrowski wusste, buchstabierte den Namen und nannte die Adresse. »Vielleicht ist dieser Mensch dem einen oder anderen Dienst bekannt.«
Tasten klackerten, Gesichter beugten sich vor Flachbildschirme. »Michael Winner?«, wiederholte ein Rothaariger und sprach den Namen amerikanisch aus.
Veller schöpfte Hoffnung. »Hast du etwas über ihn?«
»Michael Winner«, wiederholte der Geheimdienstmann, von seinem Bildschirm ablesend, »geboren 1935 in London, lebt in den Vereinigten Staaten. Regisseur und Produzent der Death-Wish-Reihe mit Charles Bronson, ein krasser Streifen aus den Siebzigerjahren. Ein Mann sieht rot, so hieß der erste Film auf Deutsch, wisst ihr noch?«
Ein paar jüngere Leute machten große Augen. Andere kicherten.
»War’s das?«, fragte Veller. Er war enttäuscht und sauer, denn er argwöhnte, dass die eine oder andere Behörde Kenntnisse für sich behielt, um exklusiv damit glänzen zu können. Die Kooperation im famosen GTAZ kannte Grenzen, wusste Veller.
Der Kollege vom Internet-Zentrum antwortete: »Wir haben das Netz durchforstet und sind sogar Foren durchgegangen, die von den harmloseren Islamisten betrieben werden, die normalerweise Gewalt ablehnen. Also religiöse Zirkel an den Unis, Kulturvereine, arabische Gemeinden und so weiter. Das Einzige, was wir finden konnten, sind ein paar Postings eines Said und eines Rafi. Die IP-Nummern, unter der sich beide Teilnehmer eingewählt haben, deuten auf Düsseldorf hin, also könnte es sich um Said Boussoufa und Abderrafi Diouri handeln. Die Forumsbeiträge vermitteln einen Eindruck, wie die beiden tickten, mehr aber nicht.«
Der Internetspezialist ließ eine dünne Mappe herüberwandern. Veller nahm sie entgegen und packte seine Sachen zusammen. Wenn er sich beeilte, würde er vielleicht einen früheren Rückflug erwischen.
Der Staatssekretär hielt ihn zurück: »Einen Moment noch, Herr Veller.«
»Was gibt’s?«
Das Haifischgrinsen blitzte auf. »Der Bundesminister veranstaltet in einer Stunde eine Pressekonferenz und hätte Sie gern dabei.«
»Mich?«
»Es geht um einige Grundgesetzänderungen, die nach unserer Meinung unabdingbar geworden sind. Einsatz der Bundeswehr, erweiterte Präventivbefugnisse für das Bundeskriminalamt et cetera. Sie würden sich auf dem Podium gut machen. Ein Mann der Praxis.«
Veller war sprachlos. Er sollte den Kronzeugen für die politischen Ziele des Ministers spielen.
»Als Kriminalbeamter brauche ich diese Maßnahmen nicht«, antwortete er. »Und für solcherlei Show fehlt mir leider die Zeit. Schönen Tag noch.«
Veller beeilte sich, den Saal zu verlassen.
Während er auf ein Taxi wartete, vibrierte sein Handy: Neue Nachricht von VV.
Veller las die Kurzmitteilung seines Schachpartners: Gibst du etwa auf?
Auf keinen Fall, dachte Veller.
Er durfte nicht zu lange mit seinem nächsten Zug warten, denn Vitus Vellers zweite Leidenschaft galt schottischem Single-Malt-Whisky – wenn er nicht Schach spielte, fing er früher oder später zu trinken an. Die halbe Verwandtschaft hielt ihn deshalb mit Fernschach per SMS auf Trab. Bei seinem letzten Besuch in Detmold hatte Veller erlebt, wie der alte Herr sieben Bretter zugleich in Arbeit hatte.
Das Taxi fuhr vor. Der Fahrer trug Dreadlocks und quatschte ihn nicht an. Die Musik war passabel.
Auf der Fahrt zum Flughafen zog Veller die dünne Mappe aus seiner Tasche, die der Kollege vom
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