Sprengkraft
Schürze verteilte Aschenbecher, damit die Raucher ihre Stummel entsorgen konnten. Van Straelen rief: »Von wegen todsicheres Brandbekämpfungssystem! Ich wusste es: Der Architekt hat Mist gebaut!«
Moritz aß im Wohnzimmer noch einen Happen, dann beschloss er, sich zu verabschieden. Ihm schwirrte der Kopf. Er brauchte dringend frische Luft und war reif für sein bescheidenes Bett in Köln-Ehrenfeld.
Van Straelen fing ihn ab. »Herr Lemke, wir brauchen Ihren Rat.« Der Hausherr stand mit Ingenieur Valery und Chefredakteur Hagedorn zusammen. »Ist Ihnen Borghild ein Begriff?«
Nach den Eindrücken in van Straelens Privatmuseum konnte Moritz den Namen sofort zuordnen. Vor ein paar Jahren war Borghild durch die Presse gegeistert, zumindest taz und FAZ hatten ein schräges Gerücht kolportiert: die Nazisexpuppe. Angeblich habe SS-Chef Heinrich Himmler Anfang der Vierziger beim Dresdner Hygieneinstitut die Entwicklung einer möglichst lebensechten Puppe in Auftrag gegeben. Sie sollte in Serie gehen und der Triebabfuhr dienen, damit sich die Wehrmachtssoldaten in den besetzten Gebieten nicht länger beim Bordellbesuch den Tripper holten. Geheime Reichssache, penible Forschungen. Als Modell für Borghild hatte Himmler sogar Filmstars casten lassen, wie es hieß. Nach der Niederlage von Stalingrad habe man die Arbeit an der Puppe jedoch eingestellt. Eine herrliche Story – nichts davon war jemals bestätigt worden.
»Ich habe davon gehört«, gab Moritz zu. »Es soll einen Prototypen gegeben haben, der aber beim Luftangriff auf Dresden vernichtet wurde.«
»Laut meinen Gewährsleuten waren es zwei Prototypen«, raunte Gisbert Valery. »Eine blonde Variante und eine dunkle. Aus Umfragen wusste die SS nämlich, dass der Landser eher den exotischen Typ bevorzugte. Borghild zwei, also die Dunkle, wurde nach Berlin geschafft, um sie Himmler zu zeigen.« Der Dicke legte eine Kunstpause ein und lugte über seine Halbbrille. »Sie soll den Krieg überdauert haben!«
Moritz bemerkte, wie Hagedorn die Augen verdrehte – der Kurier -Chef hielt ebenso wenig von dem Gerücht wie er.
»Das wäre etwas für mein Museum«, warf van Straelen ein.
»Nichts da!«, widersprach Valery. »Du schnappst mir nicht auch noch die Puppe weg!«
Van Straelen fragte: »Was meinen Sie, Herr Lemke, könnte der Prototyp echt sein oder nicht?«
»Borghild ist ein Fake«, warf Hagedorn ein. »Ein Scherz im Internet, nichts weiter. Da will Ihnen nur jemand das Geld aus der Tasche ziehen.«
»Ihre Meinung kennen wir, Herr Hagedorn. Ich habe Herrn Lemke gefragt.«
Moritz erkannte, dass zumindest Valery keine Warnung hören mochte. Die Sammelleidenschaft strahlte aus seinem Gesicht. Moritz beschloss, sich den dicken Ingenieur gewogen zu halten.
»Wo soll sich der zweite Prototyp befinden?«, fragte er.
»Im Ausland«, antwortete Valery. »Genauer möchte ich nicht werden. Ein Chemiker, der an der Erforschung neuer Kunststoffe arbeitete und maßgeblich an Borghilds Entwicklung beteiligt gewesen war, ging nach 1945 in die Sowjetunion, wo man ihn als Spezialist in der Raumfahrtindustrie beschäftigte. Er brachte den Prototyp mit. Während einer von Stalins Säuberungswellen fiel der Mann in Ungnade und ein Armeegeneral riss sich Borghild unter den Nagel. Sie verstaubte in seinem Ferienhaus am Schwarzen Meer. Nach dem Tod des Generals erwarb ein russischer Oligarch das Haus und entdeckte die Puppe, wusste zunächst aber nichts mit ihr anzufangen. Schließlich gelang es ihm, anhand einer Typenbezeichnung auf der rechten Fußsohle Borghilds Herkunft zu entschlüsseln.«
»Und?«, fragte van Straelen noch einmal. »Ein Scherz, oder nicht?«
»Ich würde nicht die Hand dafür ins Feuer legen, aber …«
»Aber?«, wiederholte Valery ungeduldig.
»Aber angesichts der Fülle der Details klingt die Geschichte ziemlich glaubwürdig«, sagte Moritz.
»Danke!« Valery drückte ihm die Hand, seine Stimme zitterte vor Ergriffenheit. »Den nächsten Jour fixe veranstalten wir bei uns, Herr Lemke. Sie müssen unbedingt auch meine Sammlung besichtigen.«
Moritz schaffte es endlich, sich loszueisen. Vor der Garderobe stieß er zu seiner Überraschung auf Bucerius, den Baulöwen, der sich mit einem Unbekannten unterhielt. Die beiden legten gerade ihre Mäntel ab.
Bucerius wippte auf den Zehen, als er Moritz begrüßte: »Wie war’s?«
»Ich glaube, Gräfe hat einige Schecks einsammeln können.«
»Und Sie wollen schon
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