Sprengkraft
ihren Eltern wohnte. Fatima war das zweite Kind der Diouris, vier Jahre älter als Rafi. Ungewöhnlich wirkte auf Zander auch ihre Erscheinung: weite Baggy-Jeans und ein kariertes Hemd. Ihr Haar war streichholzkurz und weizenblond gefärbt. Doch der Teint und die schwarzen Augen konnten die südländische Abstammung nicht verleugnen. Fatima Diouri studierte Medizin, wie Zander in den Vernehmungsprotokollen ihrer Eltern gelesen hatte.
Er warf seine Visitenkarte auf den Tisch, denn am Schluss des Gesprächs würde er es todsicher vergessen.
»Tee?«, fragte Fatima.
»Danke«, lehnte Anna ab. Auch Zander schüttelte den Kopf.
»Ihre Wange sieht nicht gut aus«, sagte die Marokkanerin zu ihm. »Sie sollten damit zum Arzt gehen.«
Das geht dich einen Scheiß an, Terroristenschwester, dachte Zander und entgegnete: »Wir versuchen herauszubekommen, woher der Sprengstoff stammte und ob es außer Rafi und seinen zwei Freunden noch weitere Komplizen gibt.«
»Wollten diese Idioten wirklich einen Anschlag verüben?«
Zander nickte.
»Ich weiß nichts. Ehrlich. Ich habe keinen Kontakt mehr zu Rafi. Ich bin froh, wenn ich ihm nicht begegne.«
»Warum?«, fragte Anna.
»Solange Noureddine lebte, war alles okay. Mein älterer Bruder hat mich sogar unterstützt, nachdem er kapiert hatte, dass ich mein eigenes Leben führen muss. Aber nach Noureddines Tod fing mein Vater wieder mit der alten Leier an: Ich solle zurückkommen, ständig würden ihn die Leute anquatschen, im Laden, in der Moschee, was für eine Schande das sei und so weiter. Als marokkanisches Mädchen kannst du erst ein Individuum sein, wenn du dich von der Familie löst.«
»Und dann?«
»Meine Eltern hatten einen Bräutigam für mich ausgesucht. Zuerst haben sie versucht, mich auf die freundliche Art zu überreden, dann haben sie mir gedroht. Richtig krass wurde es, als Rafi seinen Glauben entdeckte und meinte, sich aufspielen zu müssen.«
»Was heißt ›krass‹?«, fragte Anna.
Fatima stand auf und schob das Hemd hoch. Zwei hässliche Narben auf ihrem Bauch. Sie setzte sich wieder und zündete eine Zigarette an.
»Haben Sie ihn nicht angezeigt?«, fragte Anna.
»Den eigenen Bruder?«
»Und das Krankenhaus hat den Vorfall auch nicht gemeldet?«
»Der Arzt war Marokkaner und hat mich verstanden. Wenn ich Rafi ins Gefängnis gebracht hätte, wäre er bald wieder rausgekommen und hätte beim nächsten Mal seine Freunde mitgebracht. Nee, ich bin aus dem alten Viertel weggezogen, halte meine Adresse geheim und gehe nicht mehr ohne Pfefferspray aus dem Haus. Mein Vater lässt mich jetzt in Ruhe.«
»Und Rafi? Hat er nicht versucht, Sie aufzuspüren?«
»Doch.« Fatima zog an der Zigarette und inhalierte tief. »Auch eine?«, fragte sie und schob die Schachtel in die Mitte des Tischs.
Weder Zander noch Anna griffen zu.
Die Studentin stand auf und öffnete das Dachfenster. Kalte Luft mischte sich mit dem Rauch. »Kurz nach Weihnachten sind wir uns zufällig in der Stadt begegnet, Rafi und ich.«
»Und?«
Fatima lachte, ihre Augen blieben ernst. Sie blies den Rauch zum Fenster hin. »Seitdem weiß ich, dass Pfefferspray wirkt.«
Von nebenan hörte Zander ein leises Geräusch, das wie ein Niesen klang. Dann noch einmal, gedämpfter. Zander erinnerte sich, dass zwei benutzte Tassen auf dem Tisch gestanden hatten, als sie gekommen waren.
»Meine Katze«, sagte Fatima. Rote Flecken zeichneten sich auf ihren Wangen ab.
»Was wissen Sie über Rafis Freunde?«, fragte Anna.
»Nichts. Ehrlich. Meine Welt ist das nicht. Aber wenn mein kleiner Bruder wirklich einen Anschlag vorbereitet hat, dann war es garantiert nicht seine Idee. Er orientiert sich immer nur an anderen. Früher war das Noureddine. An dem hing der Kleine wie eine Klette. Und irgendwann begegnete er diesen Leuten, die ihm einredeten, man müsse als Muslim genauso leben wie der Prophet im siebten Jahrhundert. Als ich erfuhr, dass er in die Bombensache verwickelt ist, musste ich daran denken, wie er als Kind war. So zart und schüchtern. Ein süßer Kerl. Ich habe ihn geliebt. Ehrlich.«
»Sagt Ihnen der Name Michael Winner etwas?«
»Nein, nie gehört.«
»Was war mit Noureddine?«, fragte Zander.
»Wie meinen Sie das?«
»Wer hat ihn Ihrer Meinung nach ermordet?«
»Sie wissen sicher, dass mein großer Bruder im Drogengeschäft war. Bisnes, so hat er es genannt, als wär’s ein ganz großes Ding. In Wirklichkeit hat er nur die Drecksarbeit für die
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