Sprengkraft
Zander klingelte.
Saids Mutter war unverschleiert und hatte kein Problem, ohne Anstandswauwau mit einem männlichen Polizisten zu reden. Trotzdem fragte sich Zander, ob die Sitten es erlaubten, ihr die Hand zu geben. Vorsichtshalber ließ er es bleiben.
Die Schlüssel kenne sie nicht, behauptete die Frau – Zander war sich nicht sicher, ob sie die Wahrheit sagte.
Ihre Augen waren gerötet, sie schniefte und knetete ein Taschentuch. Ganz die trauernde Mama, dachte Zander und konnte keine Rührung empfinden. Der tote Junge war schließlich ein Terrorist gewesen.
Er fragte, ob er das Zimmer sehen könne, in dem Said vor seinem Auszug gewohnt hatte. Als er beim Betreten der Wohnung seine Schuhe abstreifte, war Zander froh, dass er seit Neuestem darauf achtete, Socken ohne Löcher anzuziehen.
In Saids früherem Zimmer standen noch ein weiß lackiertes Doppelbett und ein Schrank. Zudem ein Bügelbrett und ein Ständer, auf dem Wäsche zum Trocknen hing. Der Raum war ungeheizt, die feuchten Klamotten müffelten etwas.
Zander versuchte, die Schlüssel in das Schloss des Schranks zu fummeln, doch sie passten nicht. Die Schranktür sprang von selbst auf, an der Stange hingen Jacken und Mäntel, auf dem Einlegeboden war Bettwäsche gestapelt.
Mutter Boussoufa lehnte am Türrahmen, guckte traurig und sagte nichts.
»Es tut mir leid«, sagte Zander, als er die Wohnung verließ.
Der Küchengeruch im Treppenhaus erinnerte Zander daran, dass er seit dem Frühstück nichts gegessen hatte.
Er betrat das Chez Chef, wählte einen Fenstertisch und bestellte Taboulé, ein Gemisch aus Hartweizengrieß, klein gehackten Zwiebeln, Tomaten und Paprika sowie reichlich Minze und Petersilie. Beim Blick auf die Auslage in der gläsernen Theke war er davon ausgegangen, dass man das Zeug für ihn warm machen würde, doch es schmeckte auch kalt. Dazu trank er bittersüßen Tee. When you are in Rome , do like the Romans do – immerhin war er in Klein-Marokko.
Fünfzig Cent mussten als Trinkgeld genügen. Zander schlüpfte in seine Lederjacke und verließ das Lokal.
Während er in der Tasche nach dem Autoschlüssel fingerte, fiel sein Blick auf das Schaufenster des Reisebüros. Ein Boeing-Modell der Royal Air Maroc.
Zander musste daran denken, wie er als Kind Kampfjets zusammengeklebt und an Bindfäden von der Decke seines Zimmers hatte baumeln lassen, Düsenjäger der NATO und der Sowjetunion, friedlich als Staubfänger vereint. Mit zwölf hatte er Pilot werden wollen.
Im Inneren des Reisebüros trat ein dünner Kerl aus einer braun laminierten Tür, wischte sich die Hände an seinem Anzug ab und nahm hinter einem Schreibtisch Platz. Zehntagebart, mittellanges Haar, das Sakko schlotterte drei Nummern zu groß von den Schultern.
Sieh an: Hiwa Kaplan.
Zander öffnete die Ladentür, eine altmodische Klingel schellte.
»Hallo, Effendi, was kann ich für dich tun?«, begrüßte ihn Hiwa, doch Zander merkte ihm an, dass sich der Kerl keineswegs freute, ihn zu sehen.
»Wie kommt es, dass ein Kurde in einem marokkanischen Reisebüro arbeitet?«
»Mein Chef ist liberal. Der sieht das nicht so eng.«
»Er muss wirklich sehr liberal sein. Oder hast du ihm verschwiegen, dass du ein Junkie bist?«
Hiwa lächelte unsicher. »Du solltest echt mal ausspannen. Zwei Wochen Strand. Agadir oder so. Da bist du hier genau richtig.«
An den Wänden hingen Poster mit touristischen Motiven aus Marokko und Tunesien. Auf dem Tisch ein weiteres Modellflugzeug, diesmal mit der Aufschrift Atlas Blue. Zander packte das Ding am Sockel. Atlas Blue hob ab und flog Warteschleifen. Hiwa warf einen raschen Blick zur Tür hinüber, aus der er gekommen war.
Atlas Blue landete wieder.
»Du hast mich vorgestern Abend ganz schön blamiert«, sagte Zander.
»Kann ich doch nichts dafür, dass Noureddines kleiner Bruder nicht aufgekreuzt ist und sich stattdessen in die Luft gejagt hat.«
»Du bist mir etwas schuldig.«
»Was denn?«, fragte Hiwa und schaute wieder zur braunen Tür.
»Ich will von dir wissen, wer euch gewarnt hat, wenn wir eine Razzia gegen Noureddines Café planten.«
»Da musst du Noureddines Leute fragen.«
»Das Alarmsystem lief über euch Kurden. Die PKK hatte alle Fäden in der Hand. Streite das nicht ab. Ich wette, dass du Bescheid weißt!«
»Effendi …«
»Und komm mir jetzt nicht wieder mit Akif, der in sein Heimatdorf zurückgekehrt ist.«
»Er war der Kommandeur.«
»Scheiß drauf.« Zander
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