Sprengkraft
zwanzig muslimischen Gemeinden. Alle hatten die sogenannte Düsseldorfer Erklärung unterschrieben, wonach sie sich von terroristischer Gewalt distanzierten. Einige hängten diese Erklärung sogar in ihren Räumen aus, schienen sie also ernst zu nehmen.
Die Hinterhofmoschee in Oberbilk hatte bis vor einem halben Jahr als Anlaufpunkt von Fundamentalisten gegolten. Ab und zu waren dort radikale Wanderprediger aufgetaucht. Nach einem Wechsel an der Spitze des Kulturvereins war es in dieser Hinsicht ruhig geworden. Die Telefone der Moschee und der Vereinsvorstände wurden natürlich trotzdem überwacht.
Weil die unmittelbare Tatortarbeit inzwischen abgeschlossen war, konnte die Polizei das Areal zum morgigen Freitagsgebet freigeben. Veller beschloss, im Anschluss daran die Moscheebesucher befragen zu lassen. Er beauftragte ein Team damit und bat Heidenreich, den Einsatz zu begleiten.
Es klopfte an der Tür, Sprengstoffspezialist Klaus Bisping segelte in den Raum, murmelte eine Entschuldigung wegen der Verspätung und brachte Neuigkeiten: »Die Kanister aus dem Keller der Boussoufas enthalten mehrere Liter Wasserstoffperoxid in ausreichender Konzentration. Zum Teil stammen sie aus Belgien – offenbar hat sich der Käufer Mühe gegeben, nicht aufzufallen. Dazu drei Liter Aceton, ein gängiges Lösungsmittel, das man an jeder Ecke bekommt. Alles noch originalverpackt und ungeöffnet. Wir konnten Fingerspuren sicherstellen, ich rechne jeden Moment mit einem Anruf aus der Kriminaltechnik.«
Veller warf ein: »Wenn man die Flüssigkeiten mischen würde …«
»… wird’s hochexplosiv, genau. Mit einem Schuss verdünnter Säure als Katalysator entsteht Acetonperoxid, ein heißes Zeug. Weil man es so einfach herstellen kann, ist es vor allem unter jugendlichen Bastlern recht beliebt. Aber auch unter Leuten, die es ernst meinen. Der Volksmund nennt den Stoff Apex. Er ist auch deshalb so reizvoll, weil man keinen Sprengzünder braucht. Eine Wunderkerze, die man in den Behälter steckt, genügt. Oder die Wendel einer Glühbirne. Außerdem reagieren die üblichen Sprengstoffdetektoren nicht auf Apex. Mit einer Detonationsgeschwindigkeit von fünftausend Metern pro Sekunde hat es etwa die Sprengkraft von TNT, ist im Unterschied dazu allerdings wahnsinnig sensibel. Die kleinste Erschütterung oder Temperaturschwankung, ein Sonnenstrahl, der auf das Behältnis trifft, oder eine nervöse Hand beim Umrühren – schon fliegt einem das Zeug um die Ohren.«
»Hat die Sauerlandgruppe nicht auch versucht, Apex herzustellen?«, warf Dombrowski ein. »Und für die U-Bahn-Anschläge in London wurde das Zeug ebenfalls verwendet.«
»Richtig. Wir haben aber keinen Hinweis auf irgendwelche Kontakte«, antwortete Veller. »Weder zu den Sauerlandleuten noch zu einer ausländischen Organisation.«
In diesem Moment unterbrach mehrstimmiges Handyklingeln die Diskussion.
Einige Kollegen reagierten, aber es waren nur Veller und Bisping, die angerufen wurden. Veller hatte die Laborchefin am Ohr.
»Der Sprengstoff ist identifiziert«, sagte sie.
»Lass mich raten: Apex.«
»Nein, Paul, das war kein Selbstlaborat, sondern ein gewerblicher Sprengstoff auf der Basis von Ammoniumnitrat. Der Handelsname lautet Eurodyn 2000, Hersteller ist die Firma Orica in Troisdorf.«
Für einen Moment war Veller verwirrt. »Bist du dir sicher?«
»Trug der Prophet einen Bart? Die Antwort lautet: Ja.«
»Kannst du rüberkommen?«, fragte Veller. »Wir sitzen gerade im Besprechungsraum.«
»Okay.«
Zugleich mit Veller steckte auch Bisping sein Mobiltelefon ein. Sie blickten sich an.
»Du zuerst«, bestimmte Veller.
»Die Fingerspuren auf den Chemikalienbehältern aus dem Keller stammen von Said Boussoufa, wie zu vermuten war.«
»Und auf der Tasche mit dem Heroin?«, fragte Anna.
»Verschiedene Spuren, aber verwischt. Und dein Anruf, Paul?«
Veller blickte in die Runde und sagte: »Apex war nur Plan B unserer Zelle. Sie hatten etwas Besseres.«
»Was meinst du damit?«
»Wird uns gleich aus erster Hand erklärt. Dr. Frankenstein ist im Anmarsch.«
Bisping kicherte, als fast im gleichen Moment die Laborchefin eintraf.
Die Kollegin grüßte mit freundlichem Lächeln und reichte Dombrowski ein Bündel an Unterlagen für seine Akten, bevor sie sich einen freien Stuhl suchte und zu berichten begann.
Am Ende der Sitzung schwirrte Veller der Schädel. Die Ungereimtheiten des Falls wuschsen, statt sich zu
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