Sprengstoff
Dad, hatte Charlie gesagt, aber er war stur geblieben und hatte weitergebaut. Als das Wasser den ersten Burgwall erreicht hatte, grub er mit den Fingern eine Mulde und spaltete den nassen Sand wie die Scheide einer Frau. Das Wasser stieg immer höher.
Verdammt noch mal! brüllte er das Wasser an.
Und dann baute er den Wall neu auf. Eine Welle zerstörte ihn wieder. Die Leute um ihn herum fingen an zu schreien.
Einige rannten aufgeregt hin und her. Der scharfe Pfiff des Rettungsschwimmers zerschnitt die Luft wie ein silberner Pfeil. Er mußte die Burg retten. Aber das Wasser war nicht aufzuhalten, es umspülte seine Knöchel, brach einen Turm ein, dann das Dach, die Rückwand der Burg, schließlich fiel alles in sich zusammen. Als die letzte Welle zurückschwappte, ließ sie nur noch den blanken Sand zurück, flach und glatt, braun und schimmernd.
Er hörte noch mehr Schreie. Jemand weinte. Er blickte auf und sah, wie der Rettungsschwimmer Charlie von Mund zu Mund beatmete. Charlies Körper war naß und bleich bis auf seine Lippen und Augenlider. Die waren blau. Sein Brustkorb bewegte sich nicht mehr. Der Rettungsschwimmer gab seine Versuche auf. Er blickte zu ihm auf. Er lächelte.
Er hat bis über den Kopf im Wasser gestanden, sagte der Rettungsschwimmer lächelnd. Wäre es nicht an der Zeit gewesen, daß Sie sich um ihn gekümmert hätten?
Er schrie: Charlie!, und dann war er aufgewacht und hatte Angst gehabt, daß er vielleicht wirklich geschrien hätte.
Lange Zeit lag er im Dunkeln, lauschte auf das Klicken der Digitaluhr und versuchte, nicht an den Traum zu denken.
Schließlich stand er auf und ging in die Küche, um ein Glas Milch zu trinken. Erst als er den Truthahn entdeckte, der auf einem Teller taute, fiel ihm wieder ein, daß heute Thanksgiving war und daß die Wäscherei geschlossen hatte. Er trank seine Milch im Stehen und betrachtete den ausgenommenen Truthahn nachdenklich. Seine Hautfarbe war ebenso bleich wie die Haut seines Sohnes vorhin im Traum. Aber Charlie war ja gar nicht ertrunken. Natürlich nicht.
Als er sich wieder ins Bett legte, murmelte Mary etwas, das er wegen ihrer schlaftrunkenen Stimme nicht verstand.
»Es ist nichts«, sagte er. »Schlaf weiter.«
Sie murmelte noch etwas.
»Schon gut«, sagte er in die Dunkelheit.
Sie schlief wieder ein.
Klick.
Es war jetzt fünf Uhr. Als er endlich einschlief, hatte die Morgendämmerung sich wie ein Dieb ins Zimmer geschlichen. Sein letzter Gedanke drehte sich um den Truthahn, der unter dem kalten Neonlicht auf dem Küchentisch lag und gedankenlos darauf wartete, daß man ihn verzehrte.
23. November 1973
Um fünf vor acht fuhr er seinen zwei Jahre alten LTD Stephan Ordners Auffahrt hinauf und parkte ihn hinter dessen flaschengrünem Delta 88. Das Haus war ein großzügig angelegtes Natursteingebäude, in gebührendem Abstand vom Hen-reid Drive. Es lag teilweise hinter einer hohen Ligusterhecke versteckt, von der allerdings jetzt, Ende Herbst, nur noch das Skelett übriggblieben war. Er war schon öfter hier gewesen und kannte sich drinnen ganz gut aus. Im Erdgeschoß befand sich ein riesiger, aus Feldsteinen gemauerter Kamin, und in den Schlafzimmern im Obergeschoß waren ein paar bescheidenere Feuerstellen, die alle funktionierten. Im Keller stand ein Brunswick-Billardtisch, und im Nebenraum hing eine große Leinwand für Steves Amateurfilme. Die Stereoanlage hatte er im letzten Jahr auf Quadrophonie ausbauen lassen.
Fotos von Ordners Basketballteam aus seiner Collegezeit schmückten die Wände - er war einen Meter sechsundneunzig groß und hielt sich gut in Form. Wenn er durch die Türen ging, mußte Ordner den Kopf einziehen, und vermutlich war er insgeheim stolz darauf. Vielleicht hatte er sogar die Türrahmen absichtlich niedriger machen lassen, damit er sich ducken mußte. Der Eßzimmertisch bestand aus einer gut zwei Meter achtzig langen, auf Hochglanz polierten Eichenplatte. Dazu passend eine wurmstichige Eichenkommöde, deren Oberfläche aufgrund von sechs oder acht Lackschich-ten strahlend glänzte. Am anderen Ende des Eßzimmers stand ein hoher Geschirrschrank, der - was meinst du, Fred? - gut zwei Meter hoch war. Ja, kommt ungefähr hin. Im Garten war ein Grill installiert, auf dem man gut und gerne einen unzerteilen Dinosaurier garen konnte. Und natürlich war da ein kleiner Golfplatz. Allerdings kein nierenförmiger Swimmingpool. Nierenförmige Swimmingspools galten mittlerweile als unmodern und waren
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