Spür die Angst
Anteil: Hundertfünfzigtausend für Jorge, Petter und Mehmed zusammen. Das Leben war soft. Jorge der King – Jorgius Maximus.
Ein Gedanke, für den er bisher nie Zeit gehabt hatte: War das Ganze vorherbestimmt? Würde ein gewöhnlicher Typ aus einem Stockholmer Ghetto es überhaupt je zu mehr bringen als zum Dealen mit K? War die Sache bereits gelaufen, als seine Mutter sich entschieden hatte, Chile zu verlassen, und sich darum bemüht hatte, eine angepasste Bürgerin in einem neuen Land zu werden? Es war, als stiege man in einer U-Bahn-Station in einen Zug ein und merkte zu spät, dass man in die falsche Richtung fuhr. Man konnte nichts machen. Konnte nirgends aussteigen. Und was passierte, wenn man die Notbremse zog? Jorge und seine Freunde hatten es als Kinder oft getan. Die verdammte U-Bahn stoppte natürlich nicht mitten auf der Strecke, wie man hätte annehmen können – sie fuhr erst in die nächste Station ein, bevor sie anhielt. Was war dann also der Sinn einer Notbremse, wenn man doch gezwungen war, dorthin zu fahren, wohin man nicht wollte?
Jorges Zukunftspläne nahmen langsam eine neue Dimension an. Das Land so schnell wie möglich zu verlassen war nicht mehr angesagt. Der Rachefeldzug gegen Radovan war ihm wichtiger denn je. Aber bis dahin war es noch ein langer Weg. Er wusste einiges über Herrn R’s Kokainhandel von früher – aber eben nicht genug. Radovan musste geglaubt haben, dass J-Boy bedeutend mehr in der Hinterhand hatte. Warum sonst hatte er Mrado und Ratko auf ihn gehetzt? Jorge brauchte mehr, eindeutige Beweise, um ihn hochgehen zu lassen.
Genügend, um Paola nicht zu gefährden.
Genügend, um seinem eigenen Hass gerecht zu werden.
Die Umsetzung von Abdulkarims Plänen war zeitintensiv. Der Verkauf von Koks in den westlichen Vororten und in ausgewählten südlichen Gebieten wie Bredäng, Hägerstensåsen, Fruängen musste auf die Beine gestellt werden. Außerdem war er mit der Planung und Vorbereitung eines größeren Schneeimports beschäftigt. Möglicherweise direkt aus Brasilien.
Jorge hatte in seinem freien Leben jede Menge zu tun.
29
Die Reise nach innen – mit Statens Järnvägar, der schwedischen Bahn. JW war auf dem Weg nach Robertsfors.
War er auf dem Weg nach Hause? Oder weg? Wo eigentlich war sein Zuhause? In den Wohnungen der Boys, den Toiletten des Kharma, wo die K-Geschäfte abgewickelt wurden, in seinem Zimmer bei Frau Reuterskiöld, oder in Robertsfors – bei Mama und Papa?
Er hörte Musik auf seinem MP 3 -Player: Coldplay, The Sadies und andere Popsongs, während er Weichgummiautos aus der Tüte aß. Versuchte, die immergleiche Frage zu beantworten, ob es einen geschmacklichen Unterschied zwischen den weißen, roten und grünen gab. Er probierte sie mit geschlossenen Augen.
Draußen war es dunkel. Er konnte sein Spiegelbild im Fenster sehen. JW dachte: für einen Narziss wie mich phantastisch.
Der Großraumwagen war nahezu leer. Einer der Vorteile, die das Studentenleben mit sich brachte, war, dass man an jedem beliebigen Tag in der Woche fahren konnte. Natürlich hätte er es sich auch leisten können, jeden beliebigen Zug oder Flug zu nehmen, egal wie teuer er war. Aber in diesem Fall war Vorsicht geboten – es wäre dumm, den Argwohn seiner Eltern zu wecken.
Eigentlich hätte er für die Uni arbeiten müssen. Eine Hausarbeit über nationalökonomische Makrotheorien schreiben: das Verhältnis zwischen Zinsen, Inflation und Währungskursen. Er hatte den Laptop sogar aufgeklappt auf seinem Schoß liegen. Aber die monotonen Geräusche des Zuges schläferten ihn fast ein. Er fühlte sich ausgepowert.
Klappte den Laptop zu. Steckte sich eine Handvoll Autos in den Mund und schloss die Augen. Ließ die Vergangenheit Revue passieren, während er kaute.
Es war ungefähr vier Monate her, dass er Jorge im Wald gefunden hatte. Seitdem hatte Abdulkarims Colaexpansion nahezu seine gesamte Zeit in Anspruch genommen. JW und Jorge waren inzwischen jeweils für ihren eigenen Projektbereich verantwortlich. Die Kohle strömte nur so herein, im Schnitt hundert Riesen pro Monat. Bald würde er sich seinen BMW kaufen, in bar, und vielleicht auch eine Wohnung. Musste allerdings erst ein wenig Geldwäsche betreiben.
Sein Studium war ziemlich ins Hintertreffen geraten. Er schaffte die Prüfungen nur noch mit Mühe und Not. War er dabei, seine Vorsätze zu brechen? Der positive Effekt allerdings war, dass er sich so langsam einen Namen im Stureplandschungel machte.
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