Spür die Angst
Zeitung las und Kaffee trank. Er fühlte sich ungewöhnlich rastlos.
Am Tag zuvor hatte er über sechzigtausend Kronen ausgegeben. Für Kleidung, Taschen, Schuhe, Essen, den Nachtclub in Soho. Später in der Nacht waren sie noch ins Chinawhite gegangen – eine Tischreservierung mit Getränken kostete dort allein schon mindestens 500 Pfund – das hatte reingehauen. Das andere China White konnten sie ja im Moment schlecht verticken. Aber das Verrückte an der Sache war nicht, dass er so viel Geld auf den Kopf gehauen hatte. Ihn beschäftigte eher, wie seine Eltern darauf reagieren würden, wenn sie es erführen.
Er schickte eine SMS an Sophie. In diesem Augenblick erschien sie ihm so fremd, obgleich sie wahrscheinlich die Person war, die ihn am besten kannte. Aber alles hatte er ihr noch nicht anvertraut, er brachte es einfach nicht über sich, ihr von seiner Herkunft zu erzählen. Schämte sich für seine einfache Durchschnittsfamilie und wollte sie auch nicht unbedingt mit der Camilla-Geschichte konfrontieren. Eines stimmte ihn allerdings nachdenklich. Wenn er nicht einmal mit seiner Freundin darüber sprechen konnte, wie eng war dann überhaupt ihre Beziehung?
JW legte die Zeitung zur Seite. Zwei konkrete Gedanken nahmen in seinem Kopf Gestalt an. Der eine: Er würde in Zukunft mehr Zeit mit Sophie verbringen. Der zweite war etwas schwieriger umzusetzen, nämlich ihr von seiner Familie zu erzählen. Aber vielleicht konnte sie ihm ja sogar dabei helfen, mehr herauszufinden.
Fahdi kam gegen zehn Uhr dreißig herunter. Sie frühstückten zusammen und warteten gemeinsam auf Abdulkarim.
Er kam nicht.
Es wurde elf Uhr.
Weitere fünfzehn Minuten vergingen.
Fahdi schien unruhig zu werden. Aber sie wollten Abdul nicht unnötig wecken. War da möglicherweise irgendetwas, von dem JW nichts wusste? Gab es etwas, wovor Fahdi Angst hatte?
Es wurde zwölf Uhr.
Schließlich ging JW nach oben. Er klopfte an die Tür zu Abdulkarims Zimmer.
Keine Reaktion.
Klopfte noch einmal.
Nichts.
Es gab zwei Alternativen: Entweder war Abdulkarim nach den Eskapaden der letzten Nacht einfach nur fertig, oder ihm war etwas zugestoßen. Deswegen vermutlich Fahdis Stress. JW dachte: Was waren das eigentlich für Leute, die sie heute treffen würden?
Er hämmerte gegen die Tür. Horchte.
Nichts zu hören.
Hämmerte erneut.
Schließlich hörte er Abdulkarims Stimme von drinnen.
JW öffnete die Tür.
Der Araber hockte in der Mitte des Zimmers auf dem Fußboden.
Abdulkarim erklärte: »Sorry. Ich war spät dran mit meinem Morgengebet.«
»Betest du etwa?«
»Ich versuch’s. Leider bin ich ein schlechter Mensch. Schaffs nicht immer, aus dem Bett zu kommen.«
»Aber warum?«
»Was,
warum?
«
»Ja, warum betest du?«
»Das kapierst du nicht, JW , weil du ein stinknormaler Schwede bist. Ich verneig mich vor Allah. Beug meinen Körper zur Erde runter, aus der er geschaffen wurde. Er spricht zu mir, zu allen Menschen, Negern oder Weißen, Schweden oder Nichtschweden, Reichen oder Armen – Allah, der Wahrhaftige, er ist unser Schöpfer und Herr.«
Abdulkarim meinte es ernst.
In JW s Ohren klang es wie qualifizierter Schwachsinn, heruntergeleierte Floskeln, aber er hatte jetzt weder die Zeit noch die Muße, Abdulkarims Lebenseinstellung zu diskutieren. Er dachte: Er wird schon selbst darauf kommen, was zählt – Allah oder Cash.
Im Moment jedenfalls hatten sie es ziemlich eilig.
Abdulkarim ließ das Frühstück ausfallen.
JW , Abdulkarim und Fahdi auf dem Weg nach Norden, in Richtung Birmingham. Die Fahrt mit dem Taxi würde zweieinhalb Stunden dauern – eine Limousine mit viel Platz für die Beine. Abdulkarim wollte nicht, dass sie ausgerechnet an so einem Tag beengt sitzen mussten.
Sie waren auf dem Weg – zu den richtig Großen.
Sie hätten auch mit dem Zug, dem Bus, oder gar per Flugzeug reisen können. Aber diese Lösung war besser, sicherer, entspannter. Vor allem mehr gangsterlike. Wer lässt sich schon gern in einem Bus durchrütteln, wenn es Limos gibt?
Abdul amüsierte sich über den exakt vorgegebenen Zeitrahmen für das bevorstehende Ereignis. Er hatte einen Anruf von einer ihm unbekannten Person erhalten. Sie hatten den Ort und die Zeit ausgemacht: Hauptbahnhof.
»Don’t be late.«
Sie waren auf dem Weg – raus aufs Land.
Der Taxifahrer hatte das Radio an. Drum ’n’ Bass dröhnte aus den Lautsprechern in den hinteren Türen. Ultrabritisch.
Er war ein junger Inder. Abdulkarim hatte eine neue
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