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Spür die Angst

Spür die Angst

Titel: Spür die Angst
Autoren: Jens Lapidus
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Beerdigung. Heute ist ein großer Tag. Ein Festtag.«
    »Nenad, du bist mein Freund. Du kennst mich. Ich hab über zehn Jahre für Radovan gearbeitet. Und davor haben er und ich Jokso gedient. Hab mit Rado im selben Verbund gekämpft. Fünf Wochen lang unter massivem Bombardement mit ihm im selben Bunker außerhalb von Srebrenica gehaust. Und heut werd ich ihm meinen Abschied erklären. Glaubst du etwa, dass ich darüber glücklich bin?«
    »Versteh schon. Aber es warst nicht du, der angefangen hat. Radovan hat dich zuerst erniedrigt. Ohne Grund. So behandelt man keinen Waffenbruder. Nach all dem, was wir für ihn getan haben. All die Jahre, Aufopferungen, Entbehrungen.«
    »Er hat mich nie wie einen Waffenbruder behandelt.«
    »Genau. Er hat dir nicht die Würde erwiesen, die du verdient hast. Mein Großvater hat mir mal eine Geschichte aus dem Krieg erzählt, also dem Ersten Weltkrieg. Hab ich dir die Sache mit dem Fasten schon erzählt?«
    Mrado schüttelte den Kopf.
    »Großvater hat gegen die Partisanen gekämpft. Im Winter ’ 42 ist er von der Ustaša gefangen genommen worden. In ein deutsches Gefangenenlager außerhalb von Kragujevac gebracht worden. Die Verhältnisse waren katastrophal, sie kriegten nichts zu essen, wurden jeden Tag verprügelt, bekamen ihre Familien nicht zu sehen. Litten unter Krankheiten, Lungenentzündung, Typhus, Tuberkulose und starben wie die Fliegen. Aber Großvater war zäh. Weigerte sich aufzugeben. Irgendwann wurde es Frühling, und Ostern stand vor der Tür. Großvater und ein paar andere Gefangene wollten Ostern feiern, wie es damals Brauch war. Du weißt schon, serbisch-orthodox, mit Fasten und so. Sie haben in einer Art Fabrik gearbeitet, die Reifen herstellte. Von sieben Uhr morgens bis zwölf Uhr nachts; einmal am Tag hat man ihnen normalerweise was zu essen gegeben. Ein deutscher Scherge hatte mitgekriegt, dass sie fasteten und an dem Tag weder Fleisch noch Eier aßen oder Milch tranken, um sich an Jesu Leiden zu erinnern. Er ging zum Lagerchef und bekam die Erlaubnis, zusätzliches Essen zu bestellen. Auf dem Boden da drinnen in der Fabrik, in der Großvater wie ein Sklave schuftete, hat der Wärter dann ein Festessen aufgefahren. Schinken, Würste, Koteletts, Leber, Fisch, Käse, Eier. Großvater war vor dem Fastentag schon abgemagert und ausgehungert. Er litt unter Skorbut, verlor Zähne wie ’n Sechsjähriger. Der Wärter rief ihnen zu: Derjenige, der davon isst, braucht die ganze Woche nicht mehr zu arbeiten. Stell dir die Versuchung vor, sich ein einziges Mal richtig satt essen zu können. Sich auszuruhen. Aber sie hatten sich ja geschworen, nach orthodoxer Art zu fasten. Der Wärter versuchte, sie mit aller Gewalt zum Tisch zu schleifen und ihnen das Essen reinzuzwingen. Einer der Männer konnte nicht widerstehen. Der Wärter hatte es geschafft, seinen Willen zu brechen. Seine Hände gefesselt und ihn gezwungen, den Mund aufzumachen. Da griff Großvater ein. Er knallte dem Deutschen eine Eisenstange auf den Schädel.«
    Mrado unterbrach Nenads Bericht. »Kein schlechter Zug.«
    »Tja, der Wärter ging dabei drauf. Als Kind hab ich Großvater immer gefragt, wie er sich das nur getraut hat. Und weißt du, was er gesagt hat?«
    »Nein. Ich hab die Geschichte ja noch nicht gehört.«
    »Er sagte Folgendes: Ich bin nicht gläubig oder religiös. Aber die Würde, Nenad, die serbische Würde. Der Wärter hat die Ehre dieses Mannes und damit auch meine mit Füßen getreten. Ich hab es nicht für Jesus, sondern aus Selbstachtung getan. Sie haben Großvater ziemlich fertiggemacht für das, was er getan hat. Ich erinner mich noch an seine verkrümmten Arme als kleines Kind. Aber er hat nie aufgegeben. War der Überzeugung, dass er seine Würde verteidigt hatte.«
    Mrado begriff. Wusste, dass Nenad recht hatte. Die Würde ging über alles. Radovan hatte Mrados Würde mit Füßen getreten.
    Mrado musste sich wehren.
    Es gab kein Zurück.
    Sie würden ihm den Krieg erklären.
    Nur einer von ihnen würde daraus als Sieger hervorgehen.
    Mrado befühlte noch einmal seine Jacke. Der Revolver steckte in der Innentasche.
     
    Sie passierten Djursholm. Waren bald da.
    Näsbypark lag wie immer ruhig da.
    Er parkte den Porsche weit entfernt von Radovans Haus.
    Sie zogen die Klettverschlüsse ihrer Sicherheitswesten fester. Kontrollierten noch einmal die Munition in ihren Waffen.
    Gingen mit ernster Miene auf das Haus zu.
    Dafür, dass es Juni war, war es ziemlich dunkel draußen.
    Radovan
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