Spürst du den Todeshauch: Thriller (German Edition)
haben, Mrs. Schmidt«, sagte Frank äußerst zuvorkommend. »Es wird auch nur ein paar Minuten dauern.« Er wollte sich schon vom Flur ins Wohnzimmer wenden.
Lottie hielt ihn auf. »Ich halte es für angemessener, wenn wir am Esstisch Platz nehmen. Ich habe dort ein paar Fotoalben liegen, die Sie vielleicht interessieren werden.«
Sie erzählte ihnen nicht, dass sie an diesem Tisch lange nachgedacht hatte, nachdem der Anwalt Peter Callow am Vortag gegangen war. Ja, Peter würde ihre Verteidigung übernehmen, aber eines war offensichtlich: Er glaubte ihr nicht, dass sie nicht wusste, woher Gus das Geld für Gretchens Haus hatte. Und wenn er mir nicht glaubt, wird mir keiner glauben, hatte sie gedacht. Gut, dann erfinde ich eben eine Geschichte, die nicht zu widerlegen ist.
Damit zog sie die Ausziehleiter zum Dachboden herunter, stieg hinauf und holte ein verstaubtes Fotoalbum sowie mehrere gerahmte Fotos von ernst aussehenden Leuten in feierlicher Kleidung oder in Uniform herunter. Das alles hatte in einer Schachtel gelegen, die sie seit ihrem Einzug in das Haus nicht mehr geöffnet hatte.
Das Album und die Fotos, ordentlich gesäubert, lagen nun ausgebreitet auf dem Esstisch. Sie hieß die Fahnder Platz nehmen. Anders als bei den vorhergehenden Besuchen bot sie ihnen weder Wasser noch Kaffee an.
»Sie wissen, dass mein Mann ein hervorragender Handwerker war und von Douglas Connelly und seinem Pudel Jack Worth gezwungen wurde, in Rente zu gehen«, sagte sie mit fast tonloser Stimme. »Das war Gus, jawohl. Aber er stammte auch aus einer der ersten Familien Deutschlands.« Sie schlug das Album auf. »Im Ersten Weltkrieg war sein Großvater Adjutant des Kaisers. Sein Name lautete Feldmarschall Augustus Wilhelm von Müller. Hier ein Bild von ihm mit dem Kaiser.«
Die beiden Brandfahnder sahen völlig perplex auf das Album.
»Und hier ein Foto vom Anwesen seines Großvaters. Gus’ Vater war der zweite Sohn in der Familie. Gus’ Eltern kamen bei einem Unfall ums Leben, als er noch ganz klein war. Er war das einzige Kind. Ihre Kutsche stürzte in einer Regennacht um. Nach ihrem Tod wurde Gus zu Verwandten gebracht, wo er mit seinen Cousinen aufwuchs.« Lottie deutete auf eines der Fotos. »Ein Schloss am Rhein, das voll war mit alten Möbeln und Gemälden, alles kostbare Antiquitäten. Mein Mann hat das alles nicht aus Museen kennengelernt, sondern die ersten acht Jahre seines Lebens im Grunde in einem Museum verbracht und es nie vergessen.«
Lottie blätterte um. »Hier sehen Sie Gus mit seinen Cousinen, als er sechs Jahre alt war. Gus war der einzige Enkelsohn und hätte irgendwann das Schloss und alles, was darin war, geerbt.«
Deutlich bewegt fuhr sie fort: »Gus’ Großvater hat Hitler verachtet. Die Familie war nicht jüdisch, aber wie viele andere ihres Rangs mussten sie nach Hitlers Machtergreifung fliehen oder wurden verhaftet. Ihre Häuser, ihre Vermögen wurden beschlagnahmt. Gus war wegen einer Blinddarmreizung im Krankenhaus, als seine Familie abgeholt und verschleppt wurde. Die Gestapo kam auch ins Krankenhaus. Die Krankenschwester versteckte Gus und zeigte ihnen stattdessen den Leichnam eines Jungen in seinem Alter, der gerade gestorben war, und gab ihn für Gus aus. Die Gestapo glaubte ihr und zog wieder ab. Die Krankenschwester, deren Nachname Schmidt lautete, nahm Gus bei sich auf. So hat er überlebt.«
»Er ist als Kind der Krankenschwester aufgewachsen?«, fragte Ramsey.
»Ja. Sie ist mit ihm in eine andere Stadt gezogen, hat ihn dort einschulen lassen und ihm eingebläut, dass er niemals über sein früheres Leben reden dürfe, sonst würde er eben falls abgeholt werden. Die Ereignisse in der Kristallnacht haben ihm Angst eingejagt, ebenso, dass seine jüdischen Freunde in der Schule den gelben Stern tragen mussten. Das war, bevor sie alle deportiert wurden.«
»Dann war er der einzige Überlebende der Familie?«
»Genau. Alle anderen sind in den Lagern umgekommen. Das Anwesen seines Großvaters wurde von den Nazis konfisziert und während des Kriegs bombardiert. Keiner wusste daher, ob irgendetwas aus dem Besitz der Familie den Krieg überdauert hatte. Gus wollte noch nicht einmal mit mir über seine Vergangenheit reden. Nach dem Krieg hatte die deutsche Bevölkerung schrecklich zu leiden. Nachdem die Krankenschwester, die ihn adoptiert hatte, krank wurde und starb, ging Gus mit sechzehn von der Schule ab. Er war jetzt völlig auf sich allein gestellt und fand Arbeit in einer Werkstatt,
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