Spur der Flammen. Roman
geheimnisvolle Aura, die ihn umgab. Woher kam er? Wer war seine Familie? Sie hatte ihn häufig dabei überrascht, wie er im Garten zum nächtlichen Himmel emporschaute. Was sah er inmitten der Sterne und Kometen und der Phase des Mondes? Er trug einen auffälligen goldenen Ring, und als sie ihn einmal darauf angesprochen hatte, hatte er ihn zu ihrem Erstaunen mit der anderen Hand abgedeckt und war errötet, so als wäre er bei etwas Verbotenem ertappt worden.
Michel, der Hélènes Blick spürte, richtete sich auf und blickte die Gestalt an der Tür an.
Sein Herz schlug schneller.
Hélène entsprach dem, was man sich landläufig unter einer Tochter aus reichem Hause vorstellte: Ihr Rock war nach der neuesten Mode gefertigt, ausladend und glockenförmig, ein Effekt, der mit Hilfe von reich gefältelten Unterröcken erzielt wurde; darüber ein enges, tief ausgeschnittenes Mieder, das einen weißen Brustansatz frei gab; gestärkte Manschetten aus Spitze als Abschluss der Ärmel. Eine modebewusste junge Dame. Darüber hinaus jedoch unterschied sie sich in Kleinigkeiten von anderen jungen Mädchen. Statt der üblichen züchtigen Kopfbedeckung ließ sie ihr Haar nach italienischem Vorbild unbedeckt und hatte es nach gängiger Florentinerart zu Zöpfen geflochten, die jeweils in Form einer Acht zu beiden Seiten ihres Kopfes aufgesteckt waren. Wovon sie jedoch abgesehen hatte, war, ihr dunkelblondes Haar zu bleichen, und sie brauchte sich auch nicht, wie Michel konstatierte, mit Gummiarabikum Löckchen an die Stirn zu kleben, weil sie von Natur aus lockiges Haar besaß. Höchst bemerkenswert war die kleine goldene Uhr, die sie an einer langen Kette um den Hals trug, ein winziger Chronometer, der von einer Spiralfeder in Gang gehalten wurde und dessen einziger Zeiger die Stunden verrinnen ließ.
Während des kurzen Aufenthalts in diesem Haus, wo er wie ein Mitglied der Familie und nicht wie ein Bediensteter behandelt wurde, hatte er Hélène näher kennen gelernt und noch ehe sie ihm ihr Geburtsdatum verraten hatte, vermutet, dass sie dem Sternzeichen der Fische angehörte.
Sie war bildhübsch und sie jagte ihm Angst ein.
»Wir sollten Eurer Mutter jetzt Ruhe gönnen«, sagte er, um das Schweigen und auch den peinlich langen Moment, in dem ihre Blicke ineinander getaucht waren, zu durchbrechen. Michel fragte sich, ob es nicht Zeit für ihn wurde, diese Stadt zu verlassen und aufs Neue weiterzuziehen, so wie es immer für ihn galt, unausweichlich.
Hélène ging voraus, durch den schmalen Gang und die Treppe hinunter ins Erdgeschoss des Hauses, wo ein Kaminfeuer gegen die kühle Frühlingsluft prasselte und Michels Gastgeber mit ofenwarmem Brot, cremigem Ziegenkäse und Wein ihrer harrte.
Hélènes Vater war ein wohlhabender Mann, der es sich leisten konnte, seine Frau und seine Tochter in Gewänder aus Florentiner Seide zu kleiden, ein Mann, der exotischen Neuheiten gegenüber aufgeschlossen war. So brachte er etwa an diesem Abend einen seltsamen neuen Vogel auf den Tisch, ein Geflügel, das die Spanier aus der Neuen Welt eingeführt hatten und das sich »Truthahn« nannte, das aber, wie Hélènes Vater befand, der Gans niemals den Rang ablaufen würde. Diese Region Frankreichs war bekannt für ihre Pflaumenbäume, die während der Kreuzzüge aus dem Nahen Osten eingeführt worden waren, und Hélènes Vater, der Eigentümer des größten Obstanbaugebiets, exportierte süßen Pflaumenwein und Zwetschgen nach ganz Europa. Dies ermöglichte der Familie den Erwerb von Luxusartikeln wie Gabeln mit perlenbesetzten Griffen, Glasscheiben in den Fenstern und Kerzen, die nicht aus Rindertalg hergestellt wurden, sondern aus dem teureren (und weit weniger unangenehm riechenden) Bienenwachs.
Trotz ihres Reichtums empfand Dr.Michel die Familie als zurückhaltend und bescheiden. Die Kranke im oberen Stockwerk war die dritte Ehefrau seines Gastgebers; ihre beiden Vorgängerinnen waren im Wochenbett gestorben, Tochter Hélène hatte als einziges Kind überlebt. Dennoch bezeichnete sich der Pflaumenhändler als rundum zufriedenen Mann. Und sollte seine Frau unter Dr.Michels Fürsorge nicht wieder auf die Beine kommen und ein Opfer ihres Lungenleidens werden, gab es, wie er Michel anvertraut hatte, genug geeignete junge Frauen im Dorf, die glücklich wären, ihm den Haushalt zu führen und das Bett zu wärmen. Hélènes Vater vertrat die Ansicht, dass in einer Welt, in der fast die Hälfte der Neugeborenen nicht das erste Lebensjahr
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