Spur der Flammen. Roman
ließen. Wie groß war doch die Welt, wenn man in ihr nach etwas Bestimmtem suchte …
Kapitel 23
Südfrankreich, im Jahre 1534
D er junge Arzt trug ein Geheimnis mit sich herum.
Dessen war sich Hélène sicher. Sie hatte mit wachsendem Interesse den gut aussehenden Fremdling mit dem seidig glänzenden, kastanienbraunen Bart und den so ausdrucksvollen Augen beobachtet. Wie alle anderen Bewohner von Agen wusste sie nicht viel über ihn, außer dass er, der roten Robe, die ihn als Gelehrten auswies, sowie dem den Ärzten vorbehaltenen flachen Samtbarett nach zu schließen, ein gebildeter Mann war. Seine Patienten nannten ihn vertraulich Dr.Michel, weil er nicht wie die gestrengen Doktoren war, mit denen sie es bislang zu tun gehabt hatten, reservierte und arrogante Vertreter ihres Standes, die ihnen bittere Pillen aufzwangen oder sie durch Aderlässe schier ausbluten ließen. Dr.Michel dagegen war freundlich, hörte sich an, was seinen Patienten Beschwerden verursachte, und verordnete ihnen wohlschmeckende Arzneien, die nicht nur lindernd wirkten, sondern auch heilten. Seine Kollegen, deren ärztliche Kunst versagte und die immer weniger Zulauf zu verzeichnen hatten, äußerten hinter vorgehaltener Hand den Verdacht, dieser Dr.Michel müsse mit dem Teufel im Bund stehen. Mehr als einer von ihnen hatte örtliche Vertreter der Kirche aufgefordert, einzuschreiten und dem Gerücht nachzugehen, dieser Fremde sympathisiere mit den Protestanten, was in ihren Augen noch verwerflicher war als Satan zu verehren. Aber Beweise dafür ließen sich nicht beibringen. Dr.Michel galt als vorbildlicher Katholik, der erstaunliche Heilerfolge erzielte. Die achtzehnjährige Hélène vermutete etwas anderes.
»Wie geht es meiner Mutter, Monsieur?«, fragte sie von der Tür der Schlafkammer aus.
»Sehr viel besser, Mademoiselle.« Michel klappte seine Arzttasche zu. »Ich habe ihr etwas gegeben, damit sie schlafen kann.« Gegen Brustbeschwerden verabreichte man üblicherweise Lungenkraut, so genannt, weil das Blatt der Pflanze wie eine Lunge geformt war. Dr.Michel dagegen bediente sich einer ungewöhnlichen Methode – einer Schüssel dampfenden Wassers, das mit Pfefferminzblättern versetzt war, die das ganze Haus mit einem berauschenden Duft erfüllten. Wo andere Ärzte versagt hatten, hatte dieser neue Mann ein Wunder vollbracht. Hélènes Stiefmutter atmete so befreit wie seit Jahren nicht mehr.
Aber nicht nur Arzneien trugen zur Heilung bei. Jeder Arzt, der die Universität erfolgreich abgeschlossen hatte, berief sich neben seinem medizinischen Wissen auch auf die Astrologie. Neben der Herzfrequenz des Patienten, seiner Hautfarbe, seiner Körpertemperatur und dem Grad der Schmerzen befasste sich Michel anhand von Tabellen, Tierkreiszeichen und Berechnungen mit Aspektanalysen, Übergängen und Zyklen, mit der Verlagerung der Planeten, mit den Scheitelpunkten von »Häusern« sowie mit Mondknoten. Seine Betreuung der Kranken ging stets mit der Anfertigung eines Geburtshoroskops des Patienten einher, wobei besondere Aufmerksamkeit der Mondphase zukam, eines der aussagekräftigen Instrumente der Astrologie, gab doch die Stellung des Mondes und des Aszendenten – das zum Zeitpunkt der Geburt am Horizont aufgehende Tierkreiszeichen – den Verlauf der Behandlung und die Prognose für den Patienten vor.
Derweil Dr.Michel seine Tabellen und Instrumente verstaute, konnte sich Hélène nicht vom Anblick dieses eleganten Mannes losreißen, der vor kurzem in ihr Leben getreten war. Seine Garderobe zeugte davon, dass er wohlhabend war und einen guten Geschmack besaß: ein wattierter Wams, durch dessen Schlitze das weiße Leinenhemd darunter zur Geltung kam, darüber eine Weste; wattierte knielange Hosen, weiße Strümpfe sowie Schuhe mit breiten Kappen. Der großzügige Kragen seines Überziehers, den er anzog, wenn er das Haus verließ, war mit Fuchspelz besetzt. Wie bei allen modebewussten Männern wirkten seine Schultern dadurch übertrieben ausladend, obwohl Hélène mutmaßte, dass er von Natur aus gut gebaut war. Er besaß eine hohe Stirn, eine lange, ebenmäßig geformte Nase und Augen, die seinem Gegenüber geradewegs in die Seele zu blicken schienen. In den Tagen, in denen er sich in diesem Haus als Gast ihres Vaters aufgehalten hatte, war Hélène aufgefallen, dass Dr.Michel von Natur aus wortkarg war. Ein Mann, der viel nachdachte und wenig sprach.
Was sie jedoch mehr als alles andere beschäftigte, war die
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