Spur der Flammen. Roman
hinunter. »Wer bist du?«
»Jean, der Sohn des Bäckers. Maman ist krank.«
»Schon gut. Hör jetzt auf, so herumzubrüllen, und geh nach Hause. Ich komme gleich nach.« Michel verzog sich wieder nach drinnen, und während er sich ankleidete, stand Hélène auf und sah nach dem Baby.
Seit fünf Jahren waren sie glücklich verheiratet. Hélène hatte zwei Kinder bekommen, die Familie nannte ein Haus ihr Eigen und hatte keine finanziellen Sorgen. Michel schiente gebrochene Knochen, stach graue Stare, zog Zähne, verschrieb Salben, Lotionen und Tees. In Schafshörnern, die ihm über die Schulter und am Gürtel hingen, trug er Puder und Kräuter mit sich herum, und in seinem medizinischen Besteck fand sich das Neueste vom Neuen, scharfe kleine Scheren, die Haare schneiden und Nähen ungemein erleichterten. Vor allem aber deutete er die Sterne seiner Patienten.
In seiner Freizeit vertiefte er sich in Schriften aus dem Schloss, und zweimal im Jahr besuchte er die Festung in den Pyrenäen, inzwischen ein Zentrum fleißiger Scholaren, die über den gesammelten Texten brüteten, sie prüften und katalogisierten, analysierten und übersetzten, sodass die Alexandrier zu den am umfangreichsten aufgeklärten Männern und Frauen wurden. Dennoch behielten sie ihr Wissen für sich, schon weil eine religiöse Unruhe das Land erfasste, sich immer mehr Stimmen gegen die Kirche erhoben und die Kirche Gegenmaßnahmen ergriff.
Die Frau des Bäckers hatte Fieber und stöhnte in ihrem Bett vor sich hin. Als Michel ihre Decke zurückschlug, musste er zu seinem Entsetzen feststellen, dass sich am Hals der Frau hellrote Knötchen gebildet hatten. Die weitere Untersuchung ergab Schwellungen in den Achselhöhlen und der Leistengegend. Wie versteinert starrte er auf die Symptome.
Der schwarze Tod hatte in Agen Einzug gehalten.
Die Pest verbreitete sich in Windeseile. Innerhalb einer Woche wurden infizierte Familien in ihre Häuser verbannt, Patienten in Pestkrankenhäusern sich selbst überlassen, Tote in Massengräbern verscharrt. Michel war ständig unterwegs. Den Lehrbüchern zufolge sah die Behandlung vor, dass man den von der Pest hervorgerufenen Schwellungen mit glühenden Brenneisen zu Leibe rückte, auch wenn dadurch das Fleisch versengt wurde und das Opfer unsägliche Qualen erlitt. Da diese Methode der Krankheit jedoch nicht Einhalt gebot, entschied sich Michel für eine ganz andere, von ihm selbst ausgetüftelte Behandlung. Überzeugt, dass sich die Pest über die Luft verbreite, es also darauf ankam, Atemwege und die Luft um sich herum so keimfrei wie möglich zu halten, ging er daran, Pillen aus Sägespänen, Iris, Gewürznelken, Aloe und pulverisierten roten Rosen herzustellen und sie unter der Bevölkerung zu verteilen, nicht ohne die Ermahnung, ständig eine dieser Pastillen im Mund zu behalten.
Insgeheim war er verzweifelt. Eine Befragung der Sterne erbrachte das niederschmetternde Ergebnis, dass fünf Planeten im Skorpion standen und damit unmissverständlich diesen neuerlichen Ausbruch der Seuche ankündigten. Wieso hatte er das übersehen?
Bald schon griff der Tod überall um sich. Väter ließen ihre kranken Söhne im Stich. Anwälte weigerten sich, Sterbende aufzusuchen und ihren letzten Willen aufzusetzen. Klöster und Konvente leerten sich. Leichen wurden in verwaisten Häusern zurückgelassen, niemand stand zur Verfügung, ihnen ein christliches Begräbnis zu bereiten. Die Seuche schlug zu und tötete derart schnell, dass Michel in seinem Tagebuch vermerkte:
»Häufig speisen Pestkranke mittags noch auf Erden und abends bereits im Jenseits.«
Neben der Seuche befürchtete er noch etwas anderes: 1348 , als der schwarze Tod zum ersten Mal über Europa hereinbrach und Millionen von Menschen mit sich riss, suchte man nach einer Erklärung dafür, nach einem Grund. Und obwohl auch viele Juden der Pest zum Opfer fielen, wandten sich die Überlebenden in ihrem Kummer und Zorn gegen die jüdische Bevölkerung, schlachteten sie ab in dem Glauben, dass
sie
die Seuche über das Christentum gebracht hätten. Jetzt hatte die Pest erneut Einzug gehalten, und wieder machte man sich auf die Suche nach einem Sündenbock.
Beim ersten Auftreten der entsprechenden Symptome hatte Michel Hélène eingeschärft, so lange das Haus nicht zu verlassen und auch nicht die Läden zu öffnen, bis das Schlimmste ausgestanden sei. Sie solle vielmehr Tag und Nacht Weihrauch verbrennen und vor allem darauf achten, dass sie und die
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