Spur der Flammen. Roman
beiden Kinder ständig seine Spezialpastillen im Munde zergehen ließen.
Tage und Wochen vergingen, und schließlich zog sich die Krankheit allmählich aus Agen zurück. Die Toten wurden verbrannt; die Überlebenden bemühten sich, das Beste aus dem zu machen, was ihnen vom Leben verblieben war. Ein Drittel der Bevölkerung war gestorben. Jede zweite Frau war zur Witwe geworden, viele Kinder zu Waisen. Nach seinem langen Einsatz kam Michel nach Hause, abgekämpft und verstört. Hélène empfing ihn an der Tür.
Er küsste sie auf die Wange und sie entblößte ihren Hals. Drei hässliche rote Beulen verunstalteten ihre weiße Haut.
Es gelang ihm nicht, sie zu retten.
Wenige Tage nach seiner Rückkehr starb Hélène, dann der kleine Sohn und schließlich das Baby. Michel war mit drei leblosen Körpern allein, während auf den Straßen das Ende der Pest gefeiert wurde.
Sein Klagegeschrei hielt die Nachbarn fern. Sie glaubten, er habe den Verstand verloren. Bis sich einige von ihnen, im Gedenken daran, wie er ihnen beigestanden, seine Nachtruhe für sie geopfert hatte, gewaltsam Zutritt zu seinem Haus verschafften, um ihm Hélènes Leichnam aus den Armen zu reißen. Er wehrte sich und schrie nur noch lauter, sodass ihnen nichts anderes übrig blieb, als ihn zu zwingen, von seinen eigenen Kräutertees zu trinken und ihn dadurch in einen Tiefschlaf zu versetzen; erst dann gelang es ihnen, die Toten auf den Friedhof am Rande der Stadt zu bringen.
In den nachfolgenden Wochen irrte Michel wie ein Gespenst im Haus herum, das er niemals verließ. Er brütete vor sich hin, redete mit Leuten, die gar nicht vorhanden waren. Als sein augenscheinlicher Wahnsinn weiter anhielt, ebbte die Anteilnahme der Bevölkerung ab. Was Michel während der Pest geleistet hatte, war vergessen – jetzt nahm man es ihm übel, dass er sich weigerte, ein gebrochenes Bein zu schienen oder ein fieberndes Kind zu behandeln. Und untereinander fing man an zu raunen, wie fragwürdig es um einen Doktor bestellt sein müsse, dem es nicht gelungen sei, die eigene Familie zu retten. Seine Patienten wandten sich von ihm ab, griffen zu Hausmitteln und konsultierten die Ärzte, die durch die Stadt kamen. Hélènes Vater, dem das Geschwätz der Leute zu Ohren kam und der ebenfalls Zweifel hegte, strengte gegen den Schwiegersohn ein Verfahren an, in dem es um die Rückgabe von Hélènes Aussteuer ging. Schließlich wurde Michel wegen einer riskanten Bemerkung einem Bildhauer gegenüber, der an einer Bronzestatue der Jungfrau Maria arbeitete, der Ketzerei beschuldigt. Michels Einwand, er habe lediglich die mangelnde Ästhetik der Statue kritisiert, wurde nicht zur Kenntnis genommen; die Inquisitoren wollten ihn nach Toulouse schicken, wo ihm der Prozess gemacht werden sollte.
Er beschloss, im Schutze der Nacht zu fliehen.
Er packte seine Taschen, um dem Ort den Rücken zu kehren, an dem er für kurze Zeit glücklich gewesen war, hielt, als er im Begriff war, ein weiteres Buch in seinem Gepäck zu verstauen, unvermittelt inne – und erinnerte sich daran, dass die Alexandrier geprahlt hatten, sie glaubten nicht an die Existenz eines Gottes.
Das war es, was Hélène und die Kleinen getötet hatte! Die Strafe Gottes dafür, dass sich Michel mit Ungläubigen verbündet, heidnische Schriften gelesen hatte. Wütend und verzweifelt zugleich trug er alles zusammen, was er an alten Manuskripten und Schriftrollen aus dem Schloss mitgebracht hatte, häufte sie in dem mit Platten belegten Teil seines Gartens aufeinander und zündete den Stapel an. Tränen rannen ihm über die Wangen und versickerten in seinem kastanienbraunen Bart, als er sein Glück verfluchte, Gott und die Sterne. Er reckte die Faust gen Himmel, schrie hinauf zu Planeten, Mond und Himmelskörpern, wie schändlich sie ihn betrogen hätten. Und als das Feuer immer höher und heißer loderte, spürte Michel, wie die Hitze nachließ und sich Kälte über ihn senkte. Bald schon breitete sich das Feuer im ganzen Garten aus, erfasste die Blumen, leckte an den Mauern seines Hauses. Aber es war kein heißes Feuer. Er ließ sich von den Flammen verschlingen, ohne Schmerzen zu empfinden. Vielmehr war ihm, als hüllte ihn eine ungeheure Wolke des Friedens und der Freude ein. Unwahrscheinliche Dinge traten ihm vor Augen: Städte mit gläsernen Türmen, seltsame Gefährte, die über breite Straßen rasten, fliegende Maschinen, Menschen, die Bilder aus dünner Luft betrachteten.
Er wähnte sich von
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