Spur der Flammen. Roman
unsichtbaren Wesen umgeben, die ihm zuraunten und ihm Geheimnisse offenbarten, und es wurde ihm klar, dass sie ihm die Zukunft zeigten.
Er begab sich zu den Alexandriern, sagte ihnen Lebewohl und bat sie um Verzeihung dafür, dass er sie nicht nur verflucht, sondern auch ihre kostbaren Schriften verbrannt hatte. Als er das Bewusstsein wiedererlangt hatte, stellte er fest, dass er sich in dem mit Platten belegten Teil seines Gartens befand, dass die Mauern seines Hauses noch standen und nur ein Aschehaufen von den verbrannten Schriften kündigte. Und er erkannte, dass ihm so etwas wie Luminanz zuteil geworden war.
Die Alexandrier rieten ihm, über das, was ihm widerfahren war, nicht zu viele Worte zu verlieren; nicht jeder würde diese prophetische Gabe als besondere Gnade ansehen, sondern als das Werk des Teufels.
Er verließ sie und setzte seine Suche fort, erforschte die Himmelslichter nach Antworten, schrieb seine Visionen nieder, ohne sie publik zu machen. Noch immer glaubte er, die Antworten lägen in den Sternen, denn was waren Sterne anderes als Licht? Zwanzig Jahre lang streifte er im Land umher, ein heimatloser Mann ohne Familie, ohne echte Freunde, ein Wanderer auf der Suche nach etwas, das er nicht einmal in Worte kleiden, über das er auch mit keiner anderen Seele sprechen konnte, weil man ihn dann zum Ketzer und Hexer abgestempelt hätte.
Die Alexandrier hatten ihm ein Buch mitgegeben, das den Titel
De Mysteriis Egyptorum
trug und Anleitungen zur Ausübung von Magie enthielt. Dieser seltene Band diente Michel dazu, sich die Kunst der Beschwörung und Zauberei anzueignen, des Wahrsagens und der Telepathie, der Magie und Weissagung; er erschloss ihm die Macht der Kristalle, die heilsame Wirkung bestimmter Pflanzen und Arzneien und wie man Ratgeber von der Sternenebene anruft. Hauptsächlich aber benutzte er das Buch dazu, sich immer wieder Luminanzen, die für ihn Zukunftsvisionen waren, zu eröffnen.
Das geheimnisvolle wie verbotene Buch unterwies den Praktizierenden, in einem abgedunkelten Raum eine Schüssel auf einen Dreifuß zu stellen und in der Schüssel eine Flamme zu entzünden. Sobald der untere Teil der Flamme glühte, sollte der Geisterbeschwörer ins Herz der Flamme blicken, ihr seine Seele, seinen Geist und sein Wesen übereignen, in ihr aufgehen. Michel hielt sich an die Anweisung und sah schon bald, wie die Flamme größer wurde und sich ausbreitete, bis die Kammer lichtdurchflutet war und sich Visionen vor ihm auftaten.
Er sah in die Zukunft.
Wieder und wieder spürte er die unsichtbaren Wesen in der Helligkeit auf sich zukommen und erkannte sie als Aristoteles und Platon, die großen Aufklärer aus der Vergangenheit, die im Zeitalter der Wiedergeburt – der Renaissance – zu ihm kamen, um ihm Kommendes aufzuzeigen. Michel schrieb auch diese Visionen nieder, schwieg sich aber, da er noch immer fürchtete, verfolgt zu werden, über seine Tagebücher aus. Zu guter Letzt empfand er die Schatten nicht länger als Bedrohung, erhellte er doch ihr Dunkel mit Licht.
1554 , nach zwanzig Jahren Abenteuer und Forschungsarbeit, ließ sich Michel in der französischen Stadt Salon nieder, wo er sich zum zweiten Mal verheiratete, mit Anne Ponsart Gemelle, die ihm sechs Kinder schenken sollte.
Am Abend nach der Hochzeit verriet er ihr sein Geheimnis und zeigte ihr seine Tagebücher. »Ich befinde mich in einer schwierigen Situation, Liebste. Ich muss diese Prophezeiungen unbedingt anderen zugänglich machen, aber dann laufe ich Gefahr, als Hexer verdammt zu werden.«
»Du weißt, dass Männer von wachem Verstand und klarem Denkvermögen das, was du zu sagen hast, als Hirngespinste abtun werden«, entgegnete die kluge Anne. »Deshalb solltest du deine Prophezeiungen verklausulieren. Diejenigen, die du aufklären möchtest, werden sie zu entschlüsseln wissen.«
Michel nahm sich ihre Worte zu Herzen. Er vollendete und veröffentlichte das erste von zahlreichen Büchern, die ihn in ganz Europa bekannt machen sollten, eine Zusammenstellung von Zukunftsvisionen. Dieses erste Buch versah er mit einem Vorwort für seinen kleinen Sohn César:
»Diese Weissagungen wurden mir durch die Macht Gottes zuteil, denn nichts kann ohne Gott sich vollenden, der sehr große Macht besitzt und seinen Geschöpfen viel Gutes erweist. Wenn sie diese Wohltaten bewahren, wird sich jedes Mal auch da, wo andere Wirkungen bezweckt werden, die ganze Inbrunst des prophetischen Charisma sich uns
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