Spur der Flammen. Roman
verwenden würde: Titanweiß für ihre Haut, Pechschwarz für ihr Haar, reines Siena für den Schatten an ihrem Hals, Ocker für ihre braunen Augen, helles Rot für ihre Lippen. Er würde Pinsel aus feinstem Zobelhaar verwenden und das Bild auf einer ovalen Leinwand ausführen, die dann in einem schmalen Rahmen mit Blattgold gefasst würde.
»Ich war von einer großen Ehrfurcht erfüllt«, fuhr Candice fort.
»So ein Gefühl habe ich bisher noch nie empfunden. Ich bin nie zur Kirche gegangen, Glenn. Ich hatte keine Ahnung, was eine spirituelle Erfahrung ist. Aber genau das empfand ich da oben auf Dschebel Mara in der untergehenden Sonne. Ich dachte mir, das muss Gott sein.«
»Du hast den Rausch des Bergsteigers erlebt«, meinte Glenn, ein wenig überrascht von diesem unerwarteten Geständnis.
Da war noch mehr, aber Candice fehlten die Worte, es war zu persönlich. Neue Fragen drängten sich ihr auf, als hätte der blendende Sonnenuntergang auf Dschebel Mara eine verschlossene Tür zu ihrem Innersten aufgestoßen: Warum sind wir hier? Was ist unser Ziel? Wo gehen wir hin? Derlei Fragen wurden beim Gottesdienst oder im Gebet gestellt, ihre geliebten Ägypter mochten sie vor langer Zeit gestellt haben und womöglich hatte Nofretete in ihrer unendlichen Heiterkeit die Antworten gewusst. Candice jedoch, in spirituellen Dingen gänzlich unerfahren, wusste nicht, wo sie beginnen sollte.
»Da war noch etwas.« Candice wandte den Kopf ab und ließ den Blick über eine Ansammlung kleiner Lehmhütten am Rande der Landstraße wandern, wo Wäsche an Leinen flatterte und Kinder im Sand spielten. »Das klingt vielleicht verrückt«, wandte sie ein, »aber als ich wie erstarrt am Felsen hing, als du mir gesagt hast, ich sollte nicht gegen den Berg ankämpfen …«
Glenn wartete. Die Kinder winkten dem Pontiac hinterher.
»Ich war wie gelähmt. Dann gab ich mich dem Felsen hin und fand den Mut weiterzuklettern.«
»Ich erinnere mich.«
»Glenn, es war, als spürte ich ein unsichtbares Wesen neben mir.«
Er nickte. Er hatte das Gleiche bei seinem Sturz und der Vision der Luminanz empfunden. Ein Wesen an seiner Seite, das ihm sagte, alles würde gut. Er hatte nie darüber gesprochen.
Candice versank erneut in Schweigen, überwältigt von dem, was sie soeben gesagt hatte. Glenn griff nach ihrer Hand und hielt sie fest, um ihr stumm zu bedeuten, dass er sie verstand.
Allmählich wich die Wüste einer üppig grünen Landschaft, die mit Gemüsegärten, Zitrushainen, Getreidefeldern und Zypressen reich gesegnet war. Nach ihrem Ritt durch die Wüste atmeten sie begierig den würzigen Duft der Wälder, während sie durch das Küstengebirge fuhren, und als sie sich der Küste näherten, versank vor ihren Augen die Sonne hinter dem Horizont.
Latakia, das antike Laodikeia, entpuppte sich als lebhafte Hafenstadt mit prächtigen öffentlichen Parks, üppigen Palmenhainen und Oleanderstauden. Der Pontiac fädelte sich in den Feierabendverkehr auf der Küstenstraße ein, die von hübschen Promenaden gesäumt wurde.
Im Hafen herrschte geschäftiges Treiben. Vor der Hafeneinfahrt lagen riesige Frachtschiffe auf Reede, Barkassen und andere Boote flitzten emsig zwischen Fähren und Passagierschiffen umher, um Passagiere von Bord zu holen oder an Bord zu bringen oder, um für die Nacht festzumachen. Zwischen den großen Lagerhäusern und riesigen Getreidesilos standen die Gebäude der Zoll- und Hafenverwaltung und der Touristinformation – genau die Orte, die Glenn und Candice auf jeden Fall vermeiden wollten. Wie sie der Ausschilderung entnehmen konnten, befanden sich die Anlegestellen für die Passagierschiffe nach Zypern, Beirut und Alexandria am Nordkai, doch zog Glenn es aus gutem Grund vor, sich im südlichen Hafenbereich nach einer geeigneten Mitreisegelegenheit umzutun.
Er setzte Candice am Meridien Hotel ab. Es wimmelte dort nur so von Touristen, und eine Amerikanerin, die sich in der Cocktail-Lounge die Zeit vertrieb, würde nicht weiter auffallen. Glenn lehnte ab, dass Candice mitkam. Für sein Unterfangen bedurfte es diskreter Ermittlungen und der richtigen Geldsumme. »Ich weiß nicht, wann ich zurückkommen werde. Wenn es zu spät wird, nimm dir ein Zimmer für die Nacht. Ich werde dich schon finden.«
»Glenn!« Sie hielt ihn am Arm fest. Die Angst in ihren Augen sagte alles. »Ich werde vorsichtig sein«, beruhigte er sie und war schon fort.
Zu Candices Erleichterung kam er bereits nach einer Stunde wieder.
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