Spur der Flammen. Roman
wieder zueinander finden. Stattdessen hatte das lang ersehnte Wiedersehen in einem Krankenzimmer stattgefunden, der alte Mann bewusstlos, nicht einmal ahnend, dass sein Sohn anwesend war.
»Glenn?«
Er drehte sich in seinem Stuhl. Maggie Delaney, seine Kollegin bei der Mordkommission, sah ihn aus großen Augen an. »Ja?«, fragte er.
»Wir haben endlich eine Spur zu dem Pförtner, der meint, etwas gesehen zu haben.« Sie hielt ihm ein Schriftstück hin.
Er starrte darauf. Konnte sich keinen Reim auf ihre Worte machen. Als ob sein hilflos daliegender Vater ihn ebenso hilflos gemacht hätte. War das ansteckend wie ein Virus? Vor seinem inneren Auge sah er das fein gewundene Gehirn, das so viel Wissen, Intelligenz und Verständnis barg, und nun unter Bandagen dahindämmerte. Neuronen, die ins Leere feuerten. »Tut mir wirklich Leid, Mr.Masters«, hatte der Chirurg am Telefon beteuert. »Ich kann Ihnen keine Hoffnungen machen. Wir haben alles Menschenmögliche getan. Bei einem jüngeren Menschen würde so ein Schlag auf den Kopf nicht so traumatisch wirken, aber Ihr Vater ist siebzig …«
War das der Preis, den man für Langlebigkeit zahlte – Gebrechlichkeit und Verwundbarkeit und ein Chirurg, der meinte, wenn man bloß jünger wäre? Während Glenn auf seinen still daliegenden Vater mit den geschlossenen Augenlidern starrte, hatte er sich insgeheim gefragt: Werde ich in dreißig Jahren auch so sein?
Eine andere schreckliche Vorstellung bahnte sich ihren Weg – Glenn sah seinen Vater hilflos am Fuß der Treppe liegen. Wie unwürdig, über eine Teppichfalte zu stolpern und wie eine lieblos weggeworfene Stoffpuppe die Treppe hinunterzufallen und hilflos liegen zu bleiben. Was, wenn Mrs.Quiroz nicht im Haus gewesen wäre? Wie lange hätte sein Vater so den Schmerzen ausgeliefert dagelegen, auf Gedeih und Verderb, bis der Postbote, der Gärtner oder ein besorgter Nachbar ihn gefunden hätte? Dem Himmel sei Dank für Mrs.Quiroz. Glenn hatte noch einmal bei ihr angerufen, doch sie stand immer noch unter Beruhigungsmitteln, wie ihr Ehemann ihm mitteilte. So groß war der Schock gewesen.
Als er das Haus nach so vielen Jahren wieder betreten hatte, waren die Erinnerungen über ihn hergefallen wie Gespenster, die sich nach menschlicher Gesellschaft sehnten. Als ob sie aus den Hauswänden gestiegen wären und sich, Aufmerksamkeit heischend, um ihn versammelt hätten. Geburtstagspartys, Weihnachtsfeiertage, von Mrs.Quiroz aufgetragene Mahlzeiten. Und er, Glenn, in der offenen Tür zum Arbeitszimmer seines Vaters, des Professors, der damals zwanzig Jahre jünger war, über wichtige Arbeiten auf seinem Schreibtisch gebeugt. Der Sohn, achtzehn Jahre alt, wie er auf dieser verhängnisvollen Türschwelle stand, sich nach tröstenden Worten sehnte und verzweifelt wünschte, vom Vater in die Arme genommen zu werden und zu hören, dass die Welt nicht so schrecklich war, wie sie sich ihm plötzlich darbot. Glenn, der sich räusperte. Der Vater, der den Kopf hob. Und dann hatte er in dieser grässlichen Stille die Gedanken seines Vaters gelesen:
Wenn du die Uni abbrichst, bringt das deine Mutter nicht zurück, mein Sohn.
Noch am selben Tag war Glenn von zu Hause ausgezogen und hatte sich bei der Rekrutierungsstelle der Polizei von Los Angeles gemeldet. Sein Lebenstraum, in die wissenschaftlichen Fußstapfen des Vaters zu treten, war der Realität einer Laufbahn im Polizeidienst gewichen.
»Großartig. Das ist wirklich gut«, wandte er sich nun an Maggie Delaney. Glenn versuchte, sich auf Naheliegendes zu konzentrieren.
Der Pförtner des Highland Avenue Gebäudes meint gesehen zu haben …
Wieder verselbständigten sich Glenns Gedanken und er sah das Bild seiner Mutter vor sich. Eine lang vergessene Erinnerung. Mit leuchtenden Augen hatte Lenore ihm etwas erzählt, und obwohl er damals nicht verstand, wovon sie redete, hing er an jedem ihrer Worte. Aber dann war sein Vater hereingekommen und hatte sie gescholten. »Verwirr mir den Jungen nicht mit deinem Gerede vom Jüngsten Tag und Armageddon. Du hast es versprochen, Lenore.« Sie war verstummt, das Gesicht wie versteinert. Damals hatte Glenn zum ersten Mal das beklemmende Gefühl, dass seine Eltern ein schreckliches, unaussprechliches Geheimnis teilten.
Wie hatte er das nur vergessen können?
Was waren ihre Worte noch gewesen?
Er drückte die Hand an die Stirn, als ob er die Silben aus dem Gehirn pressen könnte.
»Die Letzten Dinge, mein Schatz.
Ta eschata
auf
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