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Spur der Flammen. Roman

Spur der Flammen. Roman

Titel: Spur der Flammen. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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    »Als es Jesus dereinst hungerte«, sagte er zu Lenore, »hat er einen Feigenbaum, der keine Frucht trug, verflucht. Woher sollte denn der Baum wissen, was Jesus brauchte? Es ist einfach grausam, den armen Baum zu verdammen, auf ewig unfruchtbar zu sein. Dennoch ist dies nicht das Entscheidende daran. Sondern die Reaktion seiner Jünger. Sagen sie etwa: ›Herr, wie kannst du so grausam sein?‹ oder: ›Herr, der Baum kann doch nichts dafür, dass er keine Frucht trägt.‹ Oder: ›Herr, warum tust du dem Baum nicht etwas Gutes an und verleihst ihm Fruchtbarkeit?‹ Aber sie sagten nichts dergleichen. Stattdessen fragten sie verwundert: ›Wie konnte der Baum so rasch verdorren?‹ Das war alles, was sie beschäftigte. Nicht der unerwartete Zorn Jesu, nicht die ungerechte Bestrafung, sondern wie schnell so ein Baum stirbt! Vielleicht fragten sie sich auch: Wenn Jesus einem Baum Derartiges antut, kann er dann auch uns so etwas antun? Das heißt, sie fürchteten sich vor ihm. Ich aber bin kein solcher Messias, Lenore. Mich sollen die Menschen nicht fürchten, sondern sich ihrer eigenen Fruchtbarkeit bewusst sein und überlegen, was sie der Welt zu bieten haben.«
    Er dachte an sein letztes Gespräch mit ihr vor zwanzig Jahren. Es war um Glenn gegangen. In wenigen Monaten würde er achtzehn werden, und Lenore wollte seinen Eintritt in den Orden vorbereiten.
    Bevor sie einander Lebewohl sagten, hatte Philo ihr wie jedes Mal seine Liebe und Verehrung zum Ausdruck gebracht, und sie hatte geantwortet: »Philo, ich liebe dich wie einen Bruder und Freund. Mein Herz jedoch gehört John. Ich werde ihn niemals hintergehen.«
    Dies war es, was er an ihr am meisten bewunderte. Dass sie tapfer den Schein wahrte, um über das Opfer, das sie brachte, indem sie mit einem ungeliebten Mann zusammenlebte, hinwegzutäuschen. Philo hatte ihr Gesicht umfasst und gesagt: »Meine wunderbare kleine Schauspielerin. Selbst mir gegenüber lässt du die Maske nicht fallen.«
    Dies waren die letzten Worte, die sie gewechselt hatten. Dann der Anruf – er wusste nicht mehr, wem die Stimme am anderen Ende der Leitung gehörte –, um ihn zu informieren, dass Lenore tot, ermordet worden sei, dass man ihr mit einem verdammten Hammer den Schädel zertrümmert habe. Philo war schier wahnsinnig geworden vor Kummer und Schmerz, vor Trauer, die so tief und so mächtig und so unerträglich war, dass er am liebsten Gott geflucht hätte, nur dass da kein Gott war, den man fluchen konnte.
    Und dann stieg langsam in ihm die Erkenntnis auf, dass Lenore gar nicht tot war. John Masters hatte gelogen, um sie ganz für sich zu haben. Die Beerdigung war eine Farce gewesen. Seither suchte Philo überall nach der Geliebten. Wenn er auf der Straße eine Frau sah, die ihr ähnelte, folgte er ihr, innerlich von Schmerz zerrissen und ausgehöhlt, versuchte, sie einzuholen und wiederum auch nicht, weil er tief in seinem Inneren wusste, dass sie es nicht sein konnte, und Angst davor hatte, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Das letzte Mal war er einer Frau einen Kilometer lang gefolgt und dann vor dem Hotel Georges V. in Paris stehen geblieben, um sich zu sagen, dass es mit dem Begräbnis seine Richtigkeit gehabt hatte und Lenore tot war.
    Dennoch suchte er weiter. Jetzt aber war es eine Suche nach dem Sinn des Lebens. Er lief über die Boulevards der modernen Großstädte und durch die engen Gassen alter Kleinstädte, forschte in Hochhäusern und Lehmhütten, in Wüsten und auf Berggipfeln. Bei wem immer, ob bei klugen Männern oder Einfaltspinseln, suchte er Antwort auf die Frage
Warum?
    Und als er sich dann eines Tages im Straßenanzug, mit Krawatte und langem schwarzen Mantel inmitten einer erdrückenden und halb nackten Menschenmenge an den Ufern des Ganges wiederfand – wie er dort hingekommen war, vermochte er nicht zu sagen – und sich, als er in das heilige und reinigende Wasser stieg, seine italienischen Tausend-Dollar-Slipper mit dem Schlamm und Dreck des großen Lebensstroms Indiens füllten, fühlte er sich von einer seltsamen Kraft durchdrungen. Und mit einem Mal begriff er, dass
Lenores Tod einen Sinn gehabt hatte.
    Auch aus welchem Grund sie hatte sterben müssen, wurde Philo am vor Menschen wimmelnden Ufer des heiligen Flusses deutlich.
    Vor der Rückkehr zu seiner Frau Sandrine, die ihn nicht mit Fragen bestürmen würde, suchte er das Taj Mahal auf, eine Gedenkstätte, die sein Gefühl für Lenore auf eigene Weise widerzuspiegeln

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