Spur ins Eis
dicken gelben Schaumstoff auf und betrachtete die glänzende Metalldecke, die beiden restlichen Wasserkrüge, die Kiste mit den schwindenden Lebensmitteln. Aus dem Metalleimer in der Ecke roch es nach Urin und Kot.
Seltsamerweise brachte sie das Wissen, dass auch ihre Schwester sich in diesem engen Raum aufgehalten hatte, Lucy näher denn je.
Lucy war vier Jahre jünger als sie, und seit sie verschwunden war, hatte Kalyn sich oft vorgemacht, dass ihre Schwester furchtlos und mutig sei und jede Situation meistern konnte. Aber hier, eingesperrt in den Trailer des Trucks, wusste Kalyn, dass das nicht der Fall war. Lucy war verwirrt und desorientiert aufgewacht, außer sich vor Angst.
Irgendetwas ging außerhalb der gepolsterten Wände vor sich, aber Kalyn konnte nicht sagen, was.
Ein Stück des gelben Schaumstoffs glitt zurück, und die Tür zu ihrem Gefängnis öffnete sich.
Sie stand auf. Im Anhänger war es dunkel, und die nackte Glühbirne über ihrem Kopf gab nicht genug Licht, als dass sie irgendetwas erkennen konnte.
Ein Paar Handschellen flogen durch die Tür und landeten auf dem gelben Schaumstoff.
»Leg sie an.«
Eine Männerstimme, kein Akzent.
Sie ergriff die Handschellen und legte sie um die Handgelenke.
»Komm heraus.«
Kalte Luft drang in den Trailer.
»Wo bin …«
Jemand griff nach ihr und zog sie heraus, und dann wurde sie hochgehoben. Hände hielten ihre Arme über den Ellbogen fest. Sie roch abgestandenes Rasierwasser und Zigarettenrauch.
Am Ende des Trailers wurde sie heruntergehoben, in die Arme eines großen Mannes mit blonden Haaren und eisblauen Augen, denen jegliche Wärme fehlte.
30
Am späten Nachmittag hielt Will am Straßenrand einer weiteren Kreuzung.
Devlin las das Straßenschild vor : »Anchorage, dreihundert Kilometer. Valdez hundertneunzig.«
Will stieß einen tiefen Seufzer aus und ließ den Kopf auf das Lenkrad sinken. »Wir haben sie verloren«, sagte er.
»Vielleicht ist der Truck vor uns.«
Er konnte die Hoffnung in der Stimme seiner Tochter nicht ertragen. »Ich bin in den letzten anderthalb Stunden hundertfünfzig gefahren. Wenn er hier langgefahren wäre, hätten wir ihn längst schon einholen müssen.«
»Wohin hätte er denn sonst fahren können ?«
»Wohin ? Vielleicht hat er in Tok gehalten, und wir haben ihn nicht gesehen. Aber wahrscheinlich ist er doch nach Fairbanks gefahren.« Er hob den kaputten Computer auf und starrte auf den zerstörten Bildschirm.
»Wird Kalyn sterben ?«
»Ich weiß es nicht, Devi.«
»Aber wahrscheinlich doch ?« Will trat aufs Gaspedal und wendete. »Was machst du, Dad ?«
»Das Einzige, was mir übrig bleibt.«
31
Sie fuhren durch eine Stadt, die so groß war, dass sie sogar eine Art Skyline hatte – eine mickrige Ansammlung zehn- und zwölfstöckiger Gebäude. Der große Blonde fuhr den neuen Suburban, und Kalyn saß auf dem Rücksitz zwischen zwei weiteren Männern. Der Mann rechts neben ihr war jung, höchstens zwanzig. Er schaute sie ständig an und knetete die Hände. Seine Haare waren lang und schwarz, zu einem fettigen Pferdeschwanz zusammengebunden. Er ist nervös, dachte Kalyn. Der Mann links von ihr war vielleicht zehn Jahre älter – mit kurzen, hellbraunen Haaren und vielen Sommersprossen im Gesicht. Sie trugen beide schwarze Jeans und langärmlige Hemden mit Westen, in deren ausgebeulten Taschen sich vermutlich Messer und Handys befanden. Sie widerstand dem Drang, sich umzudrehen. Zu gerne hätte sie gewusst, ob der Landrover ihnen folgte.
»Wohin bringen Sie mich ?«, fragte sie.
Der Fahrer drehte das Radio lauter.
Es war vierzehn Uhr sechsundvierzig, und bald ließen sie die Stadt hinter sich und fuhren durch stille Wohnstraßen, dann durch ein Waldstück, in dem einzelne Häuser weit verstreut lagen, und schließlich war die Straße nicht mehr asphaltiert, sondern nur noch ein Feldweg mit hohen Schwarzfichten zu beiden Seiten. Der Suburban wirbelte heftige Staubwolken auf, sodass sie im Seitenspiegel nicht erkennen konnte, ob Will ihnen folgte.
Nach weiteren zehn Kilometern endete der Weg an einem langen, schmalen See.
Der große Blonde schaltete den Motor aus. Sie parkten parallel zum Ufer, sodass Kalyn die Straße im Blick hatte. Der Staub hatte sich gelegt. Irgendetwas ist passiert. Er kommt nicht.
»Würden Sie mir bitte sagen, wo ich bin ?«, sagte Kalyn.
Der Mann hinter dem Steuer blickte in den Rückspiegel und sagte : »Halt den Mund.«
»Ich muss pinkeln.«
»Halt es an.«
»Im
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