Spur ins Eis
nicht daran denke, wie müde ich bin.«
Devlin schwieg einen Moment und blickte aus dem Fenster, während sie durch Whitehorse fuhren.
»Okay«, sagte sie schließlich. »Findest du Kalyn hübsch ?«
Will richtete sich auf. »Na«, sagte er, »jetzt bin ich hellwach.«
»Nein, du musst meine Frage beantworten.«
Sie ließen Whitehorse hinter sich und fuhren ganz allein über den Alaska Highway. Zu beiden Seiten der Straße erstreckte sich Fichtenwald.
»Klar, sie ist hübsch.«
»Magst du sie ?«
»Wie bitte ?«
»In der Schule haben wir so ein Bewertungssystem. Du kannst jemanden mögen. Du kannst jemand mögen mögen . Oder du kannst jemanden mögen mögen mögen.«
Will lachte. »Und was war deine Bewertung für den kleinen Ben im Sommer ?
»Über mich reden wir jetzt nicht, Dad ?«
»Ich weiß nicht, Devi. Was denkst du ? Dass diese letzten Tage ein einziges großes Date waren ? Es ist alles ungeheuer stressig, und …«
»Das heißt doch nicht, dass du sie nicht mögen kannst.«
Er begegnete ihrem Blick im Rückspiegel. »Hör mal, ich will nicht gemein sein, aber Kalyn ist ein beschädigter Mensch, Dev. Ich habe nichts gegen sie. Ich glaube nur, dass sie schwere Zeiten durchgemacht hat, seit ihre Schwester verschwunden ist.«
»Schwerere als wir wegen Mom ?«
»Ja. Warum fragst du mich das überhaupt ? Willst du, dass ich sie mag ?«
»Ich fände es wahrscheinlich in Ordnung. Ich meine, seit Mom bist du mit niemandem mehr ausgegangen. Bist du nicht ein bisschen einsam ?«
»Gefällt es dir denn nicht, dass wir nur zu zweit sind ?«
»Doch, es ist nur … Dad !«
Will blickte auf die Straße.
Ein riesiger Elch trottete wenige Meter vor ihnen über den Highway.
Will machte eine Vollbremsung und wurde nach vorne gerissen. Etwas flog durch den Raum zwischen den beiden Vordersitzen und knallte auf das Armaturenbrett.
»Devlin !«
Schlingernd kam der Landrover zum Stehen. Die Stoßstange war keine fünf Meter von dem Elch entfernt, der Will durch die Windschutzscheibe blöde anstarrte. Will blickte nach hinten, um sich zu vergewissern, dass Devlin nichts passiert war. Sie saß angeschnallt auf ihrem Platz, und Tränen strömten ihr übers Gesicht.
»Weine nicht, Liebling. Es ist ja nichts passiert.«
Sie schüttelte den Kopf, und Will zog sich der Magen zusammen. Er blickte nach unten. Neben dem Schaltknüppel lag der Computer auf dem Boden. Teile davon hatten sich gelöst und lagen in seinem Schoß. Der Bildschirm, der immer noch an der Tastatur baumelte, war schwarz.
»O Gott«, sagte er.
»Wir können sie trotzdem noch finden, oder ?«
»O Gott.«
»Dad ?«
Er fuhr um den riesigen Elch herum und trat aufs Gaspedal.
Es war Mittag, ehe Will schließlich Jonathans Truck entdeckte, als er an der Grenzstation nach Alaska hineinfuhr.
Er und Devlin verbrachten fünfzehn quälende Minuten mit dem amerikanischen Zollbeamten. Anscheinend spürte der Mann Wills Ungeduld und stellte wesentlich mehr Fragen, als er es normalerweise getan hätte. Als sie endlich weiterfuhren, hatte Jonathan mindestens dreißig Kilometer Vorsprung.
Er beschleunigte auf hundertvierzig Stundenkilometer und raste den Alaska Highway entlang. Mitten im Niemandsland, im Ort Tok in Alaska, stieß er auf das, was er gefürchtet hatte – die Straße gabelte sich. Wenn er auf dem Alaska 1 bleiben würde, würde er direkt nach Westen nach Fairbanks fahren. Oder aber er bog links auf den Alaska 2 ab und fuhr in südlicher Richtung nach Anchorage.
»Welchen Weg sollen wir nehmen, Dad ?«
Will fuhr rechts ran und hielt an.
»Bis nach Fairbanks sind es dreihundertfünfzig Kilometer«, sagte er. »Es liegt mitten im Land. Ich weiß nicht viel darüber. Anchorage liegt im Süden, an der Küste.«
»Was denkst du, wie dicht wir hinter dem Truck sind ?«
»Keine Ahnung.«
»Dad …«
»Warte mal einen Moment, Dev.«
Er überlegte eine halbe Minute lang, dann fuhr er wieder los.
»Nach Anchorage ?«, fragte Devlin, als der Landrover auf hundertfünfzig beschleunigte.
»Es ist eine Hafenstadt. Ich habe das Gefühl, dass sie Kalyn auf ein Schiff verfrachten.«
»Bist du sicher ?«
»Nein, Baby. Kein bisschen.«
29
Als Kalyn erwachte, stand der Truck. Es war still. Sie hatte nicht vorgehabt einzuschlafen, aber die Langeweile und der emotionale Stress der letzten Tage hatten ihren Tribut gefordert. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie schon im Trailer war, obwohl es sich anfühlte wie Wochen. Sie setzte sich auf dem
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