Spur ins Nichts - Ein Jack-Irish-Roman
einem großen schwarzen Album in der Hand. Blieb am Tor stehen, stützte das Album darauf ab, blätterte. Fand das Gesuchte innerhalb von Sekunden, legte den Finger an die Stelle.
Er kam zum Auto zurück, beugte sich hinein und schaute mich an. »Hab noch nie was aus diesem Buch rausgenommen«, sagte er. »Die Frau hat das aufgehoben. Hab ihr alle meine alten Fotos gegeben, noch welche, die meine Mum gemacht hatte, und sie hat sie aufgehoben. Mit der Brownie. Brownie-Box-Kamera. Hat gute Fotos gemacht.«
Ich sagte: »Des, nehmen Sie nichts aus dem Buch. Ich komm mal vorbei, und Sie können mir die Bilder zeigen.«
Er zog ein Foto aus den Klebeecken und hielt es mir hin.
»An dem Tag«, sagte er, »das war genau an dem Tag.«
Zurück im Büro setzte ich mich an den Schneidertisch und betrachtete lange das kleine, sepiafarbene Foto. Meine Mutter mit neunzehn oder zwanzig sah umwerfend aus, ein Gesicht mit klaren Formen, eine irgendwie trockene Art, ihr eckiges Kinn zu recken. Etwas von ihr fand sich auch bei Claire, meiner Tochter: der scharfe Schnitt des Gesichts, die zarte Nase, der spöttische Blick.
Frauen. Was Männer anging, so war alles, was ich auf der Irish-Seite hatte, nur mein Vater und dessen Vater auf alten, rauchgeschwärzten Fotografien an der Wand eines Pubs. Das war alles, was ich wollte. Den Vater meiner Mutter hatte ich erst gefürchtet und dann gehasst. Und der Rest waren Frauen. Meine Großmutter, meine Mutter, meine Schwester, meine geschiedene erste Frau, meine Tochter, meine Frau Isabel, die mir jeden Tag fehlte.
Linda, geliebt, abwesend, wahrscheinlich fort.
Ich hörte auf, an Frauen zu denken, und richtete meine Gedanken auf das Heim von Gary Connors. Im Badezimmer war kein Waschbeutel gewesen. Der zweitgrößte eines vierteiligen Koffersets, ein Dreitages-Koffer, fehlte. Für ein paar Tage verreist. Aber die Alarmanlage war ausgeschaltet. Kein Band im Videorekorder der Überwachungsanlage. Und keine Papiere, keinerlei persönliche Unterlagen in der ganzen Wohnung – keine Briefe, Rechnungen, Notizen, nichts.
Ich hatte ein schlechtes Gefühl beim Thema Gary Connors.
Ich rief Cyril Wootton an.
»Belvedere Investments«, sagte Mrs. Davenport, Woottons Sekretärin. Sie gehörte nicht zu jener Generation im Kundendienst, die darauf gedrillt war: »Was kann ich für Sie tun?« in den Hörer zu flöten. Ja, Mrs. Davenport behandelte Anrufer eher so wie die Rektorin eines Internats ein Mädchen behandeln würde, in deren Unterwäscheschublade ein Würgehalsband, ein mit Nieten besetzter Leder-BH, zwei Dutzend Kondome und ein Foto des Kaplans, nackt und mit Handschellen an ein Fahrrad gefesselt, gefunden worden war.
»Jack Irish«, sagte ich. »Ist Cyril zu sprechen?«
»Mr. Irish, dieses Büro hat den größten Teil des heutigen Tages in dem erfolglosen Bemühen verbracht, Sie zu erreichen.«
»Das intelligente Büro«, erwiderte ich. »Ich hab schon davon gelesen. Technologisch der letzte Schrei. Aber, das frage ich Sie, Mrs. Davenport, wird darin immer noch Platz für die gute altmodische Wärme sein, die Menschen wie Sie verströmen?«
»Ich stelle Sie durch«, sagte sie. »Mr. Wootton, Mr. Irish.«
»Hör zu«, sagte Wootton, »ich bin gerade auf dem Sprung, um die erwarteten Personen zu treffen, die beglaubigten Aussagen werden heute noch gebraucht. Die Personen wünschen morgen früh den Flug nach Hause zu nehmen. Dein Freund will die beiden Aussagen morgen Nachmittag der Gegenseite präsentieren.«
»Mein Freund?«
»Der Klient wird jetzt durch Andrew Greer vertreten.«
Andrew war mein früherer Partner und ein Studienfreund.
»Was ist mit Cataneo passiert?«
»Skiunfall, soweit ich weiß.«
»Skiunfall? Wo hast du denn um diese Jahreszeit Schnee aufgetrieben?«
Wootton hustete: »Genau.«
»Sehr ermutigend. Warum nimmt Drew nicht die Aussagen auf?«
»Ist bis morgen Mittag noch in Sydney.«
»Cyril«, sagte ich, »ich bin für diesen Fall schon in blaugrünen Algen rumgeschwommen und hab im Trockensubstanz-Teich geschnorchelt. Such dir jemand anderen.«
Er seufzte, der Seufzer eines Mannes, der gerade seiner letzten Chance im achten Rennen dabei zugesehen hatte, wie sie den Start um sechs Längen verbaselte.
Schweigen. »Ich stehe meinen Klienten gegenüber in der professionellen Verantwortung, stets mit größtmöglicher Umsicht zu handeln«, bemerkte Wootton beiläufig.
»Genau«, sagte ich. »Professionelle Verantwortlichkeit dem Klienten gegenüber. Wie grob
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