Spur ins Nichts - Ein Jack-Irish-Roman
Tony nicht einmal verlassen hatte. Die Identifizierung war kein Problem.
»Ich glaube, man kann von mir nicht behaupten, dass ich nicht wüsste, wie Brendan O'Grady aussieht«, erklärte Sylvia. »Wenn nötig, kann ich auch besondere Merkmale und Maße liefern.«
Mrs. Davenports Augenbrauen zuckten.
»Ich glaube nicht, dass das nötig sein wird«, sagte ich.
Mrs. Davenport brauchte fünfzehn Minuten, um die Dokumente zu erstellen. Als sie sie hereinbrachte, hielt sie die Papiere mit spitzen Fingern, als wollte sie so wenig wie möglich damit in Berührung kommen.
Ich las beiden Frauen ihre Aussage vor, sie lasen sie selbst noch einmal durch und unterschrieben dann alle drei Exemplare. Mrs. Davenport und ich bezeugten ihre Unterschriften, und dann war sie auch schon zur Tür hinaus, noch ehe die Tinte getrocknet war.
»Ich bin dann auch mal weg«, sagte ich. »War nett, Sie kennen zu lernen. Gute Heimreise.«
Sylvia sah mich fest an. »Was kann man denn in diesem Kaff abends so machen?«
Ich geriet nicht in Versuchung. Versuchung ist ein milder Zustand. Es gibt noch etwas, das der Versuchung einen oder zwei Schritte voraus ist.
»Ich bin sicher, Mr. Wootton wird sich darum kümmern, dass es Ihnen an nichts fehlt«, sagte ich.
Wootton zitterte schon wie ein Retriever, der auf den Schuss wartet. »Absolut«, sagte er. »Ich habe im Sofitel für Sie gebucht. Alles was Sie möchten. Ich komme persönlich vorbei …«
Sie ignorierte ihn und hielt ihren beunruhigenden Blick weiterhin fest auf mich gerichtet. »Könnten Sie sich nicht darum kümmern?«, fragte sie und legte in leicht verruchter Weise ihren Hepburn-Kopf schräg.
Ich bedachte sie mit einem professionellen Lächeln. »Würde ich ja liebend gern, aber ich muss die Kinder zu ihrem Schulkonzert bringen.«
Sie lächelte ebenfalls. »Sie lügen. Huren jagen manchen Männern immer noch Angst ein.«
»Stocksteif vor Angst.«
»Schön wär's«, sagte sie. Plötzlich streckte sie geschäftsmäßig die Hand aus. »Viel Spaß bei dem Konzert.«
Wir schüttelten einander die Hand. Unsere Handflächen bildeten eine Muschel. Dann tat sie etwas Schreckliches: Sie kratzte mit dem Nagel ihres längsten Fingers über meine Handfläche. Ein freundliches, scharfes Kratzen. Ein erotischer Schauer durchlief mich, ich fiel durch ein Zeitloch, die Jahre schwanden, meine Beine fühlten sich nicht mehr in der Lage, mein Gewicht zu tragen.
Meine Mutter hatte eine Freundin, viel jünger als sie, Jane Beacham, eine hochgewachsene schlanke Frau, die mit einem Börsenmakler verheiratet war. Ich war sechzehn. Ich habe keine Ahnung, wie alt sie war. Wir standen neben Janes Wagen, einem BMW-Cabrio, auf der breiten Zufahrt zum Anwesen meines Großvaters in Brighton. Es war später Nachmittag. Ich erinnere mich an Janes kräftiges blondes Haar, der Haaransatz dunkel vor Schweiß nach dem Tennis, den Schimmer, der auf ihrer leicht gebräunten Haut lag, und dass sie nicht mich anschaute, sondern meine Mutter, lachte, mir sanft mit ihrer linken Faust auf den Oberarm schlug, während sie meine Rechte spielerisch hielt, ihre Handfläche nach oben gewandt, und nicht losließ.
Dann sagte sie: »O Gott, die Zeit läuft mir weg. Los, los. Lucy, Darling, es war ein wunderbarer Nachmittag. Jack, du bist mein Partner fürs Mixed in Portsea. Wir hauen die aus den Socken. Wir haben heute Abend Besuch. Langweilige Börsenhändler. Ich hab noch nichts vorbereitet, absolut nichts. Neil wird fuchsteufelswild sein.«
Ich erinnere mich an den Wacholdergeruch in ihrem Atem.
Und ich erinnere mich an etwas anderes: Den Blick fest auf meine Mutter gerichtet, zog sie einen Fingernagel an der Innenseite meiner Hand entlang, von dem verhornten Fleisch an den Fingerwurzeln bis zur Mitte der Handfläche.
Und da, in diesem zarten Delta, kratzte ihr langer Nagel.
Lüsternheit. Köstlich. Unerträglich.
»Na, ändern Sie Ihre Meinung?«, fragte Sylvia, die meine Hand immer noch hielt.
Ich löste den Griff. »Ein andermal vielleicht«, sagte ich schwach. »Cyril, auf ein Wort.«
Ich gab ihm die Karte mit Gary Connors Namen darauf. »Der Gefallen«, sagte ich. »Nur die Ausgaben in letzter Zeit. Alles, wo sein Name drauf steht. Kann auch sein, dass er gar nichts mit Plastik gezahlt hat. Kann mit Bargeld gewesen sein.«
Wootton sah nicht gerade glücklich aus. Er griff nicht gern auf sein kostspieliges Netzwerk aus unterbezahlten Angestellten von Kreditkartenfirmen, Fluglinien und Autovermietungen
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